Heinz Fischer will sich nicht in parteipolitisches Hickhack vor der Wien-Wahl einmischen, wie er sagt. Trotzdem hat der ehemalige Bundespräsident für Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) zwei Unterstützungsvideos aufgenommen; weil er Wien vom Bund ungerecht behandelt sieht und seine Stadt verteidigen will, wie er im Interview mit dem STANDARD betont.

STANDARD: In elf Tagen wird in Wien gewählt. Sie unterstützen Bürgermeister Michael Ludwig im Wahlkampf – wieso machen Sie das?

Fischer: Ich lebe seit 80 Jahren in Wien. Es ist eine schöne, lebenswerte und gut verwaltete Stadt. Ich merke, dass Wien ungerechtfertigt angegriffen und ungerecht behandelt wird. Ich möchte Wien verteidigen. Wien wurde mehrfach zur lebenswertesten Stadt weltweit gewählt. Ich bin aber auch ein Freund von Michael Ludwig. Ich möchte ihn und die Stadt unterstützen, ohne andere anzugreifen.

STANDARD: Was ist ungerecht?

Fischer: Dass Wien in einer Art dargestellt wird, die der Realität nicht entspricht, und dass der Eindruck entsteht, Wien bräuchte einen Kurswechsel, müsse wieder nach vorne kommen. Wien ist seit Jahrzehnten weit vorne. Ich sehe eher die Gefahr, dass Wien vornestehend Rückschritte erlebt, falls man sich von der politischen Philosophie, die jetzt vorherrschend ist, verabschiedet.

STANDARD: Dass ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel gesagt hat, Wien sei der Bremsklotz der Republik, stört Sie?

Fischer: Das ist typisch Wahlkampf, aber ich bin kein Wahlkämpfer. Ich möchte, dass man die Leistungen Wiens anerkennt und die Stadt nicht schlechtmacht.

STANDARD: Was ist die eine Sache, die Wien für Sie lebenswert macht?

Fischer: Menschlichkeit. Dass man auch etwas für die Schwächeren überhat. Dass man versucht, Ausgrenzungen zu vermeiden.

STANDARD: Sprechen Sie von den Wienern oder von der Politik der derzeitigen Stadtregierung?

Fischer: Die Menschen sind zunächst auf der ganzen Welt gleich. Aber es hängt von den Lebensbedingungen ab, ob sich Menschlichkeit entwickeln kann oder als Schwäche bezeichnet wird. Und ob man für die Schwächeren – wie man in Wien sagt – ein Herz hat. Das kann man nicht in ein paar Wochen herbeiführen. Das muss wachsen, gelebt und gefördert werden. Erst dann kann es Früchte tragen. Dafür ist es ein längerfristiges Atout, das Wien von anderen Millionenstädten unterscheidet.

Heinz Fischer: "Die Menschen sind zunächst auf der ganzen Welt gleich. Aber es hängt von den Lebensbedingungen ab, ob sich Menschlichkeit entwickeln kann oder als Schwäche bezeichnet wird."
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Bei der Wien-Wahl 2015 belegte die FPÖ mit rund 30 Prozent Platz zwei – mit einer Kampagne, die sehr wohl ausgrenzende Slogans verwendet hat.

Fischer: Aber sie hat es so weit getrieben, dass sie sich wahrscheinlich halbiert.

STANDARD: Das liegt aber eher nicht an ihrer Politik, sondern an ihren Skandalen.

Fischer: Ein Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht, und eine radikale und nicht genügend menschliche Politik wird so lange gepusht, bis sie kollabiert.

STANDARD: Die aktuelle Kritik des Bundeskanzlers und einiger ÖVP-Minister an Wien bezog sich auf die steigenden Corona-Infektionszahlen. Dies hat die Stadtregierung als Wien-Bashing abgetan. Ist an der Kritik gar nichts dran?

Fischer: Die Demokratie kann ohne Kontrolle und Kritik nicht blühen und gedeihen. Es ist aber etwas anderes, wenn gerade von einer Seite kritisiert wird, die auf Bundesebene im genau gleichen Bereich auch nicht behaupten kann, sie habe alles perfekt gemacht. Covid-19 darf weder vom Bund ausgenutzt werden, um Wahlkampf gegen Wien zu machen, noch von Wien, um sich am Bund zu reiben.

STANDARD: Meinen Sie, dass der Bund Fehler gemacht hat in der Pandemie?

Fischer: Sicher hat auch der Bund Fehler gemacht. Keines der neun Bundesländer ist fehlerfrei – auch Wien nicht.

STANDARD: Sie haben es bisher vermieden, sich in Wahlkämpfe einzumischen, daher überrascht uns Ihr jetziges Engagement.

Fischer: Ich habe am Tag meiner Wahl zum Bundespräsidenten meine Mitgliedschaft in der SPÖ ruhend gestellt und habe das bis heute beibehalten. Als ehemaliger Bundespräsident muss ich meine Worte auf die Waagschale legen. Das heißt nicht, dass ich ein völlig apolitisches Wesen geworden bin. Ich beteilige mich gerne an einer Diskussion, äußere politische Überzeugungen und habe auch meine Meinung zum Flüchtlingsproblem und zur Außenpolitik. Ich wünsche mir mehr europäischen Enthusiasmus, mehr europäische Solidarität, die offenbar im Rückzug begriffen ist.

STANDARD: Soll Österreich Kinder aus dem Flüchtlingslager Moria aufnehmen?

Fischer: Jedes einzelne Kind, das man aus einer schrecklichen Situation mit gemeinsamen europäischen Anstrengungen herausholen kann, ist etwas Positives. Das sollte man nicht als Alibiaktion kritisieren. Jedes Schicksal ist wichtig. In einer tragischen Zeit in Europa, als Millionen Menschen umgekommen sind, hat man oft nur einem Einzelnen helfen können, und es war wertvoll. Das gilt auch heute. Wenn ich einem, zehn oder 20 Kindern helfen kann, ist das für mich eine Gewissensfrage. Da bin ich gerne bereit, zu versuchen, andere zu überzeugen.

Heinz Fischer: "Jedes einzelne Kind, das man aus einer schrecklichen Situation mit gemeinsamen europäischen Anstrengungen herausholen kann, ist etwas Positives. Das sollte man nicht als Alibiaktion kritisieren. Jedes Schicksal ist wichtig."

STANDARD: Wollen Sie damit andeuten, Kanzler Sebastian Kurz fehle die Menschlichkeit in dieser Diskussion?

Fischer: Ich bin überzeugt, dass wir menschlich richtig handeln, wenn wir gemeinsam mit anderen Staaten Kinder aus dieser schrecklichen Situation herausholen. Das hat nichts mit Parteipolitik zu tun.

STANDARD: Was halten Sie von Aussagen über "flexible Solidarität"?

Fischer: Es ist solidarisch und christlich und richtig, zu helfen, wenn man helfen kann. Wir können etwas tun. Was in der Diskussion vergessen wird: Jährlich wandern 90.000 Menschen aus Österreich aus. Würde niemand ansässig werden, würde es uns gehen wie Staaten, die ein Bevölkerungsdefizit haben. Wenn unter jenen, die zu uns kommen, Kinder sind, die unter schrecklichen Bedingungen gelebt haben, dann ist das positiv. Es gibt Menschen in allen politischen Lagern, die sich darüber freuen, und es gibt andere, die das nicht tun.

STANDARD: Wahlen in Wien waren immer von großen Emotionen begleitet. 2015 war es das Duell um Wien zwischen Rot und Blau. Heuer istes Wien gegen den Bund. Läuft dieses Hickhack Gefahr, Politikverdrossenheit zu erzeugen?

Fischer: Wahlzeiten sind nicht nur Zeiten fokussierter Unintelligenz, sondern vielleicht auch fokussierter Übertreibungen und Unbalanciertheit. Aber das war schon einmal ärger. Etwa der Wahlkampf zwischen Michael Häupl und Heinz-Christian Strache war ärger als zwischen Michael Ludwig und dem jungen Mann, der jetzt an der Spitze der FPÖ steht.

Das Kampagnen-Video von Heinz Fischer für Michael Ludwig

STANDARD: In Wien darf rund ein Drittel jener, die hier leben, nicht wählen. Ist das ein Problem für die Demokratie?

Fischer: Die Anzahl der Personen, die in Wien leben, arbeiten, wohnen und Kinder haben und nicht wählen dürfen, ist zu groß. Da muss man nach einer intelligenten Lösung suchen. Diese ist nicht, jeden, der am Wahltag in Wien aufhältig ist, wählen zu lassen. Aber nach Möglichkeiten zu suchen, dass ein möglichst großer Prozentsatz sich an der Willensbildung beteiligen kann, wäre sicher im Sinne der Demokratie – wie auch schon Kelsen vor 100 Jahren argumentiert hat. Es gibt kein Patentrezept, aber man kann sich dem in konstruktiver Weise nähern. Etwa könnte man die Kriterien zur Verleihung der Staatsbürgerschaft nach dem Vorbild anderer Staaten neu definiert. Es sollte nicht sein, dass fast ein Drittel der Erwachsenen nicht wählen kann. Aber man kann auch nicht alle Schleusen öffnen.

STANDARD: Die Verfassung feiert heuer 100. Geburtstag, wäre das nicht ein Anlass, das Wahlrecht anzugehen?

Fischer: Aus diesem Anlass kann man viele Probleme besprechen. Eine Verfassung ist etwas Lebendiges und entwickelt sich immer weiter. Die österreichische Bundesverfassung gehört zu den ältesten in Europa. Sie hat einen weiten Weg hinter sich und ist noch nicht am Ende dieses Weges angekommen.

(Oona Kroisleitner, Petra Stuiber, 1.10.2020)