Bild nicht mehr verfügbar.

Demonstrationen vor dem Gericht galten der angeblich politischen Justiz gegen den Angeklagten.

Foto: Reuters / Henry Nicholls

Die Beweisaufnahme endete, wie sie begonnen hatte. Auch am Donnerstag wurde das Auslieferungsverfahren gegen Julian Assange im Londoner Zentralgericht Old Bailey dominiert von neuen Anträgen der Verteidigung, empörter Ablehnung durch die Kronanwaltschaft, Sitzungsunterbrechungen – und zuletzt der kühlen Ablehnung sämtlicher Anliegen durch Richterin Vanessa Baraitser.

Noch einmal demonstrierten eine Handvoll Getreuer vor dem imposanten neobarocken Gebäude für ihren Helden. Dessen Inhaftierung stelle einen Angriff auf Journalismus weltweit dar, betonte Wikileaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson auf einer Veranstaltung der Londoner Foreign Press Association (FPA) am Freitag. Seine Organisation habe legitimerweise schwerwiegende Verstöße gegen die Menschenrechte ans Licht gebracht. "Manchmal hatte ich den Eindruck: Hier steht nicht Julian Assange vor Gericht, sondern unsere Zivilisation", sagte Hrafnsson.

Kriegsverbrechen publik gemacht

Wikileaks hatte 2010 und 2011, teilweise in Zusammenarbeit mit renommierten Medien wie "New York Times", "Guardian" und "Spiegel", US-Geheimdokumente veröffentlicht. Dadurch kamen Kriegsverbrechen amerikanischer Streitkräfte in Afghanistan und Irak ans Licht. Assange soll die später wegen Geheimnisverrats verurteilte Soldatin Chelsea Manning zum Kopieren der 250.000 diplomatischen Depeschen angestiftet haben, Wikileaks bestreitet dies. Dem 49-Jährigen drohen in den USA wegen Computer-Hackings und Spionage bis zu 175 Jahre Freiheitsstrafe; realistischer, so die US-Regierungsvertreter, sei aber eine Zeitspanne von vier bis sieben Jahren.

Assange, stets korrekt in dunklem Anzug und Krawatte, musste hinter Panzerglas auf der Anklagebank Platz nehmen, anstatt bei seinen Anwälten zu sitzen. Dies ist normalerweise nur bei Strafprozessen gegen Terroristen und Gewalttäter üblich. Dadurch sei es ihr beinahe unmöglich gewesen, mit ihrem Mandanten vertraulich zu sprechen, berichtete Assanges Anwältin Jennifer Robinson.

Weil sich der Wikileaks-Gründer 2012 einer bereits beschlossenen Auslieferung nach Schweden durch Asyl in der Botschaft Ecuadors entzog, hält das Gericht eine Fluchtgefahr für gegeben. Deshalb sitzt Assange nach Verbüßung einer Strafe wegen Verstoßes gegen Gerichtsauflagen seit knapp einem Jahr in Untersuchungshaft.

NGOs dürfen nicht rein

Die Öffentlichkeit des Verfahrens litt auch unter den Einschränkungen, die der Corona-Pandemie geschuldet sind. So mussten sich die Anwälte beider Seiten auf zwei angrenzende Gerichtssäle verteilen, die meisten akkreditierten Journalisten konnten das Verfahren nur durch eine Live-Videoschaltung verfolgen.

Zudem unterband Richterin Baraitser am ersten Verhandlungstag im September den eigentlich zugesagten Zugang für respektierte Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch. Zur Begründung hieß es, nach einer vorhergegangenen Sitzung habe im Internet ein Foto des Gerichtssaals kursiert, was nach britischem Recht verboten ist. Insgesamt sei die Berichterstattung "außergewöhnlich erschwert" worden, beklagte FPA-Präsidentin Kate McCure.

Unter Mithilfe von mehr als 40 Experten versuchte das Verteidigerteam um Robinson den Beweis zu führen, es handele sich um "ein politisches Verfahren". Dementsprechend äußerten sich Journalismus-Veteranen ebenso wie der legendäre Whistleblower Daniel Ellsberg ("Pentagon-Papers") und der Linguist Noam Chomsky.

Sorge um den Angeklagten

Die Vertreter der britischen Regierung konzentrierten ihre Bemühungen vor allem darauf, die Expertise der medizinischen Gutachter in Zweifel zu ziehen. Assange leidet am Asperger-Syndrom, einer Erkrankung des autistischen Spektrums, sowie an Depressionen. In seiner Einzelzelle im Gefängnis Belmarsh fanden Bedienstete eine halbe Rasierklinge; seine Lebensgefährtin und Mutter zweier Söhne, Stella Moris, hat öffentlich auf Assanges Suizidgedanken hingewiesen. 2012 hatte die damalige Innenministerin Theresa May in einem anderen Fall die Auslieferung eines autistischen und depressiven Computerhackers an die USA unterbunden mit der Begründung, diese würde das Leben des Mannes gefährden.

Die Schlussplädoyers erfolgen im November schriftlich, die Verkündung des Urteils ist für Anfang Januar geplant. Bis dahin bleibt der Wikileaks-Gründer auf jeden Fall in Haft – und dem bisherigen Verlauf zufolge wäre alles andere als grünes Licht für seine Auslieferung an die USA eine Riesensensation. Robinson hat für diesen Fall Einspruch beim britischen Supreme Court und dem Europäischen Menschengerichtshof angekündigt. (Sebastian Borger, 2.10.2020)