Boris Johnson in einer Videonachricht nach seiner Entlassung aus dem Spital. Politische Beobachter empfinden ihn immer noch als gezeichnet.

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Als anderswo längst Abstand gepredigt wurde und Italien bereits regionale Corona-Lockdowns verhängte, schüttelte der britische Premier Boris Johnson Anfang März noch demonstrativ Krankenhauspatienten die Hände. Telefonisch klärte er die deutsche Kanzlerin Angela Merkel über die "wissenschaftsbasierte" Vorgehensweise seines Landes gegen Sars-CoV-2 auf; Regierungswissenschaftler sprachen von "Herdenimmunität".

Die Quittung folgte auf dem Fuß. Gegen Monatsende hatten sich außer Johnson selbst auch dessen engster Berater, der Gesundheitsminister, dessen ärztlicher Chefberater sowie der höchste Beamte des Landes angesteckt – Zeichen der ans Kriminelle grenzenden Fahrlässigkeit, mit der die Elite des Landes der Pandemie begegnete.

Fahrig und unkonzentriert

Anfang April wurde Johnson ins Spital, tags darauf sogar auf die Intensivstation gebracht. Kurzzeitig hielt das Land den Atem an. Am Ostersonntag, kurz nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus, nahm der sichtlich gezeichnete Politiker eine kurze Videobotschaft auf. Da sei er dem Tod gerade nochmal von der Schippe gesprungen, "kein Zweifel", sagte Johnson. In Wirklichkeit bestand Intensivmedizinern zufolge zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr für den Patienten, der nicht intubiert werden musste.

Seither haben die seltenen Parlamentsauftritte des 56-Jährigen häufig Zweifel an seiner vollständigen Genesung genährt. Johnson wirkt oft fahrig und unkonzentriert; öffentlich verheddert er sich in den Details der vielfältigen, verwirrenden Einschränkungen, denen derzeit schon wieder mehr als 13 Millionen Briten unterliegen.

Dem Gesundheitsministerium zufolge waren bis Ende der Woche in Großbritannien 42.202 Menschen an Covid-19 gestorben, seriöse Schätzungen sprechen von 65.000 Toten. In Europa stehen auf die Bevölkerungszahl bezogen nur Belgien und Spanien schlechter da. Opposition und viele Wissenschafter beklagen den Schlingerkurs der Regierung, die Nachverfolgung von Kontaktinfizierten gelingt dem ausgebluteten Gesundheitssystem nur annähernd. Zunehmend muss sich Johnson wegen seiner erratischen Politik auch innerparteiliche Kritik gefallen lassen. (Sebastian Borger, 2.10.2020)