Das Wiener Rathaus liegt derzeit noch in weiter Ferne – auch wenn ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel kräftige Stimmzuwächse prognostiziert werden.

Foto: Christian Fischer

Gernot Blümel hat diese ganz spezielle Art zu gehen. Sein Oberkörper ist dabei stocksteif. Die Schultern hält er sanft nach hinten gezogen, Brust raus, leichtes Hohlkreuz, fast militärisch. Die Beine wirft er hingegen bei jedem Schritt schwungvoll nach vorn, erst den Oberschenkel, dann aus dem Kniegelenk die Wade hinterher – so wie man sich als Kind den Gang eines lebendig gewordenen Nussknackersoldaten vorstellt.

Schon gehört? Lassen Sie sich diesen Artikel vorlesen!

An einem Stehtisch in dem weitläufigen Veranstaltungsraum des Wiener Museumsquartiers legt er einen kurzen Stopp ein und zieht die Schlaufe seiner Maske vom rechten Ohr.

Der Finanzminister trägt, wie immer, ein blütenweißes Hemd. Anzugjacke und Hose sind blau, die Schuhe schwarz mit roten Sohlen. Das Stecktuch hat er in Rechteckfaltung eingeschoben. Doch dazu: keine Krawatte.

Das ist Blümels Ding – ein Einstecktuch in der Brusttasche, aber sonst leger. Sein Auftreten beschreibt ihn vermutlich besser als die meisten Adjektive. Gernot Blümel weiß, wie man Gestrigem einen modern-gepflegten Anstrich verleiht.

Er schenkt sich ein Glas Mineralwasser ein, nimmt einen kräftigen Schluck und spült den Mund durch. Schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten zupft er sich am Gürtel die Anzughose hoch. Er hat abgenommen in den vergangenen Wochen – Regierungsmitglied mit Finanzhoheit inmitten der Pandemie, türkiser Spitzenkandidat der Wien-Wahl, Jungpapa, es kommt gerade einiges zusammen.

Der Raum ist gespenstisch leer. Die Stadtakademie der Wiener ÖVP hat eine Podiumsdiskussion anberaumt, aber – aufgrund der steigenden Corona-Zahlen – ohne Zuseher. Es ist der gefühlt zweihundertste Internettermin, den Blümel in diesem Wahlkampf absolviert.

"Draußen bei den Leuten sein", wie es Parteistrategen gerne ihren Chefs auftragen, das ist sowas von 2019. Das Jahr der Pandemie ist auch politisch das von Facebook, Instagram und Zoom. Blümel kommt das insgeheim gelegen – er ist nicht der Typus Politiker, der auflebt, wenn er sich unters Volk mischt.

Wogen könnten hochgehen

Eingangs soll er eine kurze Rede halten und ins Thema einführen. Es geht – Überraschung – um Integration. Oder besser gesagt: ihr Scheitern in Wien. Pflichtbewusst tritt er mit Maske vor die Linse, nimmt sie erst ab, als die Übertragung schon läuft. Es ist das Thema seines Wahlkampfs, über das er gleich einen knapp achtminütigen Monolog halten wird.

Migration, Integration, Ausländer – die FPÖ bespielt das Gebiet inzwischen seit Jahrzehnten, die ÖVP zumindest seit gut drei Jahren. Fast kein anderes Politikfeld ist so emotional, so aufreibend, so vorurteilsbeladen. Geht es um Integration, gehen die Wogen hoch – fast egal, was gesagt wird –, außer man legt es an wie Gernot Blümel an diesem Abend.

Ab Anfang September verlagert Gernot Blümel seinen Wahlkampf komplett ins Internet.
Foto: Christian Fischer

Moralische Gründe

"Der liberale Rechtsstaat lebt von Grundvoraussetzungen, die er selbst nicht leisten kann", zitiert er in seiner Ansprache vor der Facebook-Community den deutschen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde. Den kennt kaum jemand, aber das tut so viel zur Sache, wie dessen Zitat die Integrationsprobleme in Wien auf den Punkt bringt.

Sagen will Blümel: Integration funktioniert nur, wenn die Betroffenen auch gewillt sind, sich zu integrieren. Da würde vermutlich niemand widersprechen. Blümel aber erklärt die Problematik über "praktische, theoretische und moralische Gründe", warum Integration notwendig ist. Mit dem Mann, der Deutsch im Gemeindebau und eine Nikolopflicht im Kindergarten fordert, hat er in diesem Moment wenig gemein.

Wer also ist Gernot Blümel, die ewige Nummer zwei hinter Sebastian Kurz, der scheinbar immer dort ist, wo ihn der Kanzler gerade braucht? Und was haben er und die ÖVP nach der Wahl in Wien vor?

In der Hauptstadt

Aufgewachsen ist Blümel in Moosbrunn, einer niederösterreichischen Gemeinde, 40 Autominuten entfernt von Österreichs einziger Metropole. Die Eltern sind beide Lehrer. Hochpolitisch sei es daheim nicht zugegangen, wobei am Küchentisch "durchaus ÖVP-lastig" diskutiert wurde, wie Blümel sagt. Er wird Klassensprecher und begründet die Junge Volkspartei in seinem Heimatort.

Mit Wien habe er sich aber schon immer verbunden gefühlt – im Wiener AKH wurde er geboren, in seiner Jugend fährt er nach Wien, um fortzugehen. In Wien studiert er Philosophie, an der Wirtschaftsuniversität Wien macht er seinen MBA. Seine Tochter, die sieben Monate alte Josefine, ist Wienerin. Blümel ist mit der Puls-4-Moderatorin Clivia Treidl liiert. Inzwischen lebt der 38-Jährige seit fast 20 Jahren in der Hauptstadt.

Während der Studienzeit, Anfang der 2000er-Jahre, engagiert er sich bei der Jungen Volkspartei im ersten Bezirk – und lernt dort Sebastian Kurz kennen. Blümel gilt bis heute als einer der engsten Vertrauten des Kanzlers. Dabei will er lange Zeit gar nicht Berufspolitiker werden.

Der große Förderer von Gernot Blümel in der Volkspartei ist Michael Spindelegger. Der junge Blümel begleitet den späteren Vizekanzler auf sämtlichen Stationen als Mitarbeiter. Doch Blümel will die Politik verlassen.

Sein Ziel: Bei einem der großen Unternehmensberater anheuern. "Also entweder Boston Consulting oder McKinsey", erzählt er. Doch dafür muss man einen speziellen Test absolvieren. Als der ansteht, kommt Spindelegger mit einem Angebot auf ihn zu: Blümel soll ÖVP-Generalsekretär werden. Das war im Dezember 2013.

Selbst bei der großen Auftaktveranstaltung hält er eine Rede vor einer gigantischen Videowall – und leeren Rängen. Blümel kommt das insgeheim gelegen. Er gehört nicht zum Typus Politiker, der in der Menschenmenge auflebt.
Foto: APA / Hans Punz

Die ÖVP liegt in internen Umfragen zu dieser Zeit bei unter 20 Prozent, erinnert sich Blümel. Und im Mai steht eine EU-Wahl an, für die er als Generalsekretär den Wahlkampfmanager machen müsste. Blümel verlegt den Test auf Juni und sagt Spindelegger zu. Sein Hintergedanke: Die ÖVP wird bei der EU-Wahl scheitern, und dann braucht die Partei ein Bauernopfer. "Sie schmeißen mich eh bald wieder raus, habe ich mir gedacht", sagt Blümel und kneift die Augen zusammen, so wie er es gerne tut, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen.

Es kommt anders. Die ÖVP, angeführt von Othmar Karas, verliert zwar leicht, aber wird klarer Sieger der Europawahl – ein überraschender Erfolg. Und Blümel bleibt.

Eine Katastrophe

Etwas mehr als sechs Jahre später steht er hinter der Plastikabdeckung, an der Schmalseite einer gigantischen ÖVP-Bühne, die neben dem Rathaus aufgebaut wurde. Er wartet auf seinen ersten großen Bühnenauftritt als Nummer eins, zu dem niemand gekommen ist.

Eigentlich wären hundert Fans geladen gewesen. Doch als hätte es die SPÖ geplant – genau zum Wahlkampfauftakt der ÖVP steigen die Corona-Zahlen in Wien massiv. Ein umherlaufender ÖVP-Mitarbeiter spricht von einer Katastrophe.

Der schwärzeste Tag

Ob mit oder ohne Publikum – für Blümel spielt das keine große Rolle. Er ist nicht der geborene Frontmann. Zum Wiener Parteichef wurde er mehr aus der Not heraus gekürt – ausgerechnet am schwärzesten Tag der ÖVP-Landesgruppe: Am Abend des 11. Oktober 2015 schmeißt der damalige Spitzenkandidat Manfred Juraczka hin.

Das Wahlergebnis – 9,2 Prozent – wurde eben verkündet. Kurz, Blümel und ein paar andere Wiener Funktionäre stehen beieinander und analysieren das Desaster. Kurz sagt lapidar: "Dann machst das jetzt du, Gernot." So erzählen es Dabeigewesene.

Blümels erster Wahlkampfauftakt als Spitzenkandidat 2020 wird spontan zum gigantischen Online-Event umfunktioniert. Die Bühne ist von einer zwei Mann hohen Videowall umrandet, auf der dutzende "Unterstützer" eingeblendet sind. Videoeinspieler, erhebende Klänge, durchmoderiert vom türkisen Feel-Good-Anchor Peter L. Eppinger. Die Reden von Kurz und Blümel vor Ort gehen fast unter.

Stimmen fischen

Inhaltlich geht es um Integration, Corona, Integration und dazwischen um Ausländer. Die Strategie der ÖVP ist klar: Das rechte Lager liegt im Argen, da hofft man, am meisten Stimmen fischen zu können.

Blümel taugt vom Typus überhaupt nicht als Scharfmacher gegen Flüchtlinge und Migranten. Er ist kein vulgärer Rechtspopulist wie Heinz-Christian Strache oder Dominik Nepp. Mensch und Strategie passen bei der ÖVP nicht zusammen.

Wohl gerade deshalb liest sich das türkise Wahlprogramm streckenweise extraderb. "Deutsch fordern statt Multikulti fördern", "Haltung statt rot-grüner Willkommenskultur" – die alten Zoten der FPÖ spult Blümel routiniert runter, mehr aber auch nicht.

"Wir bieten eine Mitte-rechts-Politik mit Anstand und Hausverstand und ohne Schaum vor dem Mund." Blümels inoffizieller Wahlkampfslogan
Foto: APA / Roland Schlager

In der ÖVP Wien sagt der harte Rechtsdrift nicht jedem zu. Präsent ist im Wahlkampf die türkise Truppe, die in erster Linie die prognostizierten Stimmenzuwächse im Auge hat. Es gibt aber einen nicht zu unterschätzenden schwarzen Flügel in der Landesgruppe: die Wirtschaftskämmerer.

Dort sitzen ÖVPler alter Schule, die längst eine gute Zusammenarbeit mit der SPÖ pflegen. Nach der Wahl wird ihnen bei Koalitionsverhandlungen eine Schlüsselrolle zukommen. Oder, wie es ein Türkiser formuliert: "Das wird dann der Walter Ruck einhängen müssen."

Ruck, der mit einer satten Absoluten ausgestattete schwarze Präsident der Wiener Wirtschaftskammer, ist im Wahlkampf vor allem durch einen Tweet der SPÖ aufgefallen. Wobei er das so natürlich nicht geplant hatte.

Begonnen hat alles mit einem Streit zwischen Blümel und Martin Selmayr, dem Vertreter der Europäischen Kommission in Österreich. Es geht um den Fixkostenzuschuss für Unternehmer, den die EU dem Finanzminister genehmigen muss. Mitte September zitiert Blümel den europäischen Spitzenbeamten zu sich. Er will ihn vor Journalisten und Unternehmern vorführen – als Bremser bei Corona-Hilfen. Es kommt zum Wortgefecht.

Noch am selben Abend beginnt Othmar Karas herumzutelefonieren – er möchte verhindern, dass der Vorfall für nachhaltig schlechte Stimmung zwischen Österreich und Brüssel sorgt. Ruck bittet er zu vermitteln. Der trifft daraufhin Selmayr und Bürgermeister Michael Ludwig zum Sechs-Augen-Gespräch. Die SPÖ macht ein Foto vom Treffen und teilt es auf Twitter. Die Message: Blümel versagt als Finanzminister, Ludwig ist mit allen in konstruktivem Einvernehmen – Ruck soll an dem Tag noch ziemlich unfreundliche Nachrichten von Parteifreunden erhalten haben.

Koalitionsprogramm fertig

Die Geschichte kann man als Patzer der ÖVP im Wahlkampf abtun. Sie zeigt aber eine Bruchlinie auf. Da steht auf der einen Seite die schwarze Wirtschaft, die unbedingt mitregieren möchte. Die Wiener Wirtschaftskammer hat für ihren Bereich sogar schon einen Entwurf für ein mögliches Regierungsprogramm zwischen ÖVP und SPÖ ausgearbeitet. Auf der anderen Seite steht die türkise Kurz-Partie, die sich nicht so recht in die Karten schauen lässt.

Die Türkisen sagen: Die SPÖ will sowieso mit den Grünen oder Neos regieren – so denn sie nicht sogar die Absolute macht. Den Schwarzen ist klar: Kurz wird nach der Wahl eine Richtungsentscheidung treffen. Will man Wien als Reibfläche behalten, auf die man sämtliche Probleme projiziert oder möchte man in der Hauptstadt wieder richtig Fuß fassen – auch in Hinblick auf die kommende Nationalratswahl.

Blümel steht auf einer Dachterrasse im Museumsquartier, der Blick reicht bis zum Rathaus, und gibt auf diese Frage die Antwort eines waschechten Berufspolitikers: Zuerst wird gewählt, dann werde man sehen. Er weiß, dass er für das Wiener Wahlergebnis – prognostiziert werden rund 20 Prozent – kaum Verantwortung trägt. "Das sind nicht wir, es ist der Kurz-Effekt", formuliert es ein Wiener Türkiser reumütig. Ob Blümel überhaupt nach Wien wechseln möchte? "Für ein Regierungsamt auf jeden Fall." In den anderen Parteien glaubt ihm das keiner.

Was Blümel hingegen jeder zubilligt, der ihn kennt: Er ist leidensfähig. Beobachten kann man das bei seinem TV-Duell gegen den FPÖ-Mann Nepp. Die beiden streiten gerade über Corona-Hilfen.

Da setzt Nepp zum tiefsten Schlag des Abends an: "Ich habe noch nie einen so kalten Politiker gesehen", wettert er. "Wenn ich hier einen Kühlschrank stehen hätte, wäre das noch ein Ausbruch an Herzenswärme und Leidenschaft." Blümel, starr, lässt die Tirade über sich ergehen, Schultern hinten, Brust hervor. Er hat an diesem Tag eine Krawatte umgebunden – sie hat fast exakt denselben Blauton wie die von Nepp. (Katharina Mittelstaedt, 3.10.2020)