Das Jahr des Chaos: 2020 wird seinem Ruf schon wieder gerecht. US-Präsident Donald Trump und seine Frau Melania sind mit Sars-CoV-2 infiziert – und der US-Wahlkampf steht schon wieder unter neuen Vorzeichen. Wie schwer die Krankheit bei Trump ausfällt, ist noch offen. Viele Reaktionen folgten dennoch unmittelbar. Die Börsen gingen auf Talfahrt; Kampfjets stiegen auf, um zu unterstreichen, dass die USA weiter wehrhaft sein würden; TV-Sender und Onlinemedien überboten sich in Breaking News, ohne aber viel sagen zu können. Expertinnen und Experten diskutierten, was seriös erst die nächsten Tage zeigen werden, aber schon jetzt alle interessiert: Welche Auswirkung hat das alles auf den Wahlkampf?

Auch hier ist fast alles offen, zu viel hängt von Trumps Gesundheit ab. Ist er auf Wochen nicht verfügbar, oder kann er sich in zehn Tagen stolz als geheilt präsentieren? Der erste Fall wäre wohl auch bei der Wahl ein Handicap für den "starken Mann" Trump. Ist er aber schnell wieder auf den Beinen, stützt das seine Argumentation: Das Virus sei für die wenigsten gefährlich, Shutdowns ganzer Bundesstaaten daher ein unnötiger Akt. Und Masken trage nur, wer überängstlich sei. Davon, wie es ausgeht, hängt nicht nur sein Schicksal ab. Es entscheidet auch für viele Amerikanerinnen und Amerikaner, ob sie das Coronavirus künftig als gefährlich betrachten.

US-Präsident Donald Trump wurde positiv auf Coronavirus getestet.
Foto: AFP/SAUL LOEB

Eines jedenfalls ist klar: Die Nachricht überschattet all das, was im Wahlkampf eigentlich Thema sein sollte – der schäbige Umgang des Präsidenten mit der Gesundheit der Bevölkerung weicht der bangen Frage nach seiner eigenen. Der Absturz der Wirtschaft, die Fragen der Polizeigewalt: Darum wird es still. Auch Trumps Aussagen, in denen er Rassisten nicht verurteilte und einen fairen Umgang mit den Wahlresultaten nicht garantieren wollte, verhallen jetzt.

Gerüchte und Verschwörungstheorien

Erwartet wird nun von allen, Trumps Krankheit ernst zu nehmen. Genau das sollten die Demokraten auch tun. Fehlende Anteilnahme und harsche Kritik würden einer Partei, die sich als Vertreterin des Anstands und der Empathie stilisiert, gerade jetzt nicht gut anstehen. Dass Trump und sein Umfeld seit Monaten die Gefahren durch das Virus herunterspielen; dass Mitarbeiter auf Geheiß des Präsidenten auf Mundschutz verzichten; dass Trump Biden noch bei der Debatte verspottete, weil dieser Masken trägt; dass der Staatschef noch am Donnerstag zu einem Abendtermin ging, als bereits klar war, dass seine Mitarbeiterin Hope Hicks erkrankt war; und dass er 2016 Hillary Clinton nach deren Schwächeanfall noch die Eignung für das Präsidentenamt absprach: Über all das wird ohnehin berichtet.

Besonders schnell griffen am Freitag auch Gerüchte und Verschwörungstheorien um sich, wonach Trump womöglich gar nicht krank sei. Eine Bestätigung von seinem Leibarzt gab es da längst. Dass sie sich trotzdem verbreiten, zeigt, wie tief das Misstrauen gegen Trumps Weißes Haus ist. Zu oft schon haben er und seine Mitarbeiter die Unwahrheit gesagt.

Es gibt aber auch Profiteure. Jene, die schon bisher über die Krise der amerikanischen Politik erfreut waren, weil sie ihnen neuen Handlungsspielraum gibt, gewinnen mit jeder Zuspitzung des Chaos. Die USA sind mit sich selbst beschäftigt, noch mehr, als sie dies vorher schon waren. Im Meer zwischen China und Taiwan, in Hongkong, in Bergkarabach, Nordsyrien und anderen Konfliktgebieten werden es gefährliche Wochen. (Manuel Escher, 2.10.2020)