Das System der Wiener Bezirksvertretungen ist veraltet und überholt, findet Europarechtler Stefan Brocza im Gastkommentar. Sinnvoller wären etwa echte Bezirksbürgermeister durch Direktwahl und fixe Kompetenzen.

In der Bundeshauptstadt Wien existiert eine einzigartige politische Funktion – jene des nicht amtsführenden Stadtrats, also eines Stadtrats ohne eigenes Ressort, nominiert von Oppositionsparteien. Möglich ist das, weil Wien von der Bundesverfassung primär als Gemeinde verstanden wird. Daher gelten die entsprechenden Gemeinderegeln. Eine davon besagt, dass die im Gemeinderat vertretenen Wahlparteien – nach Maßgabe ihrer Stärke – Anspruch auf Vertretung im Gemeindevorstand haben. Bis 1973 hieß das etwa auch, dass die ÖVP amtsführende Stadträte stellte, obwohl die SPÖ die absolute Mehrheit in der Stadt innehatte. Der Streit um den Bau der Wiener Donauinsel beendete diesen Konsens.

Der Rathausmann überblickt seit 1882 die Stadt aus luftiger Höhe, nämlich vom 98 Meter hohen mittleren Turm des Rathauses aus. Dass der Standartenträger Schuhgröße 63 hat, fällt wohl unter die beliebte Kategorie "Unnützes Wien-Wissen".
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Stadträte ohne Arbeit

Gemäß Wiener Stadtverfassung haben zwar auch weiterhin alle im Gemeinderat vertretenen Parteien "nach Maßgabe ihrer Stärke" Anspruch auf Regierungsposten, doch sind diese nicht mehr automatisch mit Macht verbunden. Wer ein eigenes Ressort erhält, entscheidet die Mehrheit im Gemeinderat. Die anderen, somit "nicht amtsführenden" Stadträte, gehen leer aus. Sie stehen keinem eigenen Geschäftsbereich vor, dürfen aber an den Sitzungen des Stadtsenats teilnehmen. Es ist jedoch nicht möglich, der Opposition diese Stadträte zur Gänze wegzunehmen – dem steht die Bundesverfassung und ihr Verständnis von Wien als Gemeinde entgegen.

So kommt es, dass Wiens Stadtsenat aktuell zwölf Mitglieder hat – von denen jedoch fünf (vier FPÖ, ein ÖVP) faktisch keiner Tätigkeit nachgehen. Im aktuellen Wahlkampf erzürnt das insbesondere die Neos. Deren Klubchef Christoph Wiederkehr ist für ihre Abschaffung. Er bezeichnet sie als "die teuersten Arbeitslosen Wiens", verursachen sie doch immerhin jährliche Gesamtkosten von rund 1,2 Millionen Euro. Dass die Wien-Wahl das falsche Forum für dieses Anliegen ist, kümmert dabei weder Opposition noch Boulevardmedien. Genüsslich wird darüber lamentiert, was das für ein Anachronismus und eine Skurrilität sei. Der Wiener Landtag selbst hat sich übrigens bereits zweimal für die Abschaffung ausgesprochen. Mit wenig Erfolg, denn ÖVP und FPÖ sind strikt gegen eine Änderung der Bundesverfassung.

Viele Bezirkskaiser

Es gibt in Wien aber auch noch 23 Bezirksvorsteher und deren 46 Stellvertreter. Bundesweit werden diese allenfalls dann wahrgenommen, wenn sie – wie Ursula Stenzl anno dazumal – Kindern das Laufen im ersten Bezirk verbieten wollen. Eigenwillig für jemanden, der immerhin monatlich klar über 10.000 Euro verdient und dazu noch demokratisch nicht einmal legitimiert ist.

Jeder Wiener Bezirk hat seine eigene Bezirksvertretung. Deren Mitglieder (je nach Bezirk 40 bis 60) werden zeitgleich mit der Gemeinderatswahl gewählt. Die Leitung liegt beim Bezirksvorsteher. Dieser wird jedoch nicht gewählt, sondern lediglich von der jeweils stimmenstärksten Partei (also ohne absolute Mehrheit) bestimmt.

Bezirksvorsteher sehen sich zwar als bürgernahe Bezirksbürgermeister, umtriebig und allgegenwärtig. Aber wirklich entscheiden können sie allenfalls über öffentliche WC-Anlagen (solange sie in keiner U-Bahn-Station sind), Pensionistentreffs, die Schneeräumung und Musikschulen. Für den Rest sind sie auf das Wohlwollen der Rathausverwaltung und insbesondere ihr Verhältnis zum Wiener Bürgermeister angewiesen.

Wenig Kritik

Erstaunlicherweise regt sich daran aber wenig Kritik. Allenfalls kurz vor einer Wahl taucht das Thema aus der Versenkung auf, um dann – nach der Wahl – dorthin wieder zu verschwinden. Das war vor fünf Jahren schon einmal so, so wird es auch jetzt wieder sein. So überrascht es kaum, dass sich die jetzige Diskussion auch nur um die Einsparung eines (!) BV-Stellvertreters pro Bezirk dreht. Das könnte die Stadt Wien zwar immerhin ohne Zutun des Bundesgesetzgebers selbst veranlassen. Als "Reform" dürfte so etwas jedoch nicht durchgehen.

Dabei ist längst klar, dass das System der Wiener Bezirksvertretungen veraltet und überholt ist. Warum braucht es keine Mehrheit, um als Bezirksvorsteher gewählt zu werden? Insbesondere, wenn sie sich selbst als "Bezirksbürgermeister" verstehen. Weder erklär- noch nachvollziehbar ist auch die Höhe der Bezüge. Bei ähnlichen Aufgaben verdient etwa ein Grazer Bezirksvorsteher nur etwa 20 Prozent seines Wiener Kollegens.

Ideen dazu gibt es: echte Bezirksbürgermeister durch Direktwahl mit absoluter Mehrheit sowie fixe Kompetenzen durch die Stadtverfassung, bei gleichzeitiger Reduktion der Amtsträger und Bezüge. Was fehlt, sind Antworten der Wiener Politik. Von allen Parteien. (Stefan Brocza, 4.10.2020)