Psychosoziale Experten bezeichnen jemanden, der zündelt und dann, wenn es brennt, nicht einmal den kleinsten Löschversuch unternimmt, als einen vorsätzlichen und krankhaften Brandstifter. Nach 16 Jahren an der Macht als Ministerpräsident und seit 2018 als allmächtiger Staatspräsident ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der 66-jährige Recep Tayyip Erdoğan zu dieser Kategorie gehört. Er war der erste ausländische Spitzenpolitiker, der sich sofort und mit voller Wucht im wiederaufgeflammten militärischen Konflikt um Nagornyj Karabach, die kleine armenische Enklave auf aserbaidschanischem Gebiet, eingemischt hat. Statt die seit 1990 schwelenden Spannungen zwischen den beiden benachbarten einstigen Sowjetrepubliken zu vermindern, kündigte er im großen Stil türkische militärische Unterstützung für den Bruderstaat Aserbaidschan an und forderte den Abzug der armenischen Truppen.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan.
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Die armenische Regierung behauptet, die Türkei nehme direkt am Angriff Aserbaidschans teil. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat von der Regierung in Ankara Aufklärung über die mutmaßliche Verlegung von 300 dschihadistischen Kämpfern aus Syrien nach Berg-Karabach gefordert. Es handelt sich bereits um die vierte türkische Militärintervention in diesem Jahr: zuerst Luftangriffe gegen das Hauptquartier der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in Irak, dann Kampfhandlungen in Nordsyrien gegen die von Russland unterstützten Truppen von Bashar al-Assad und schließlich militärische Intervention im libyschen Bürgerkrieg auf der Seite der Regierung gegen die von Russland und Ägypten unterstützten Milizen.

Säbelrasseln

In diesen Rahmen der aggressiven Außenpolitik mit imperialen Ambitionen fügt sich auch im östlichen Mittelmeer die Entsendung von türkischen Kriegsschiffen, um mit dem Säbelrasseln die Bohrungen nach Öl und Gas in griechischen und zyprischen Hoheitsgewässern zu erzwingen. Der Verzicht der 27 Staats-und Regierungschefs der EU bei ihrem letzten Ratstreffen auf Härte gegenüber der türkischen Regierung dürfte dem geopolitischen Machtstreben Erdoğans sogar einen neuerlichen Auftrieb geben.

Der extrem nationalistische Kurs mit dem Schlagwort "die ganze Welt ist gegen uns" könnte, wie der frühere Premier Ahmet Davutoğlu kürzlich warnte, noch größere Probleme mit Russland, nach Syrien und Libyen, auch im südlichen Kaukasus schaffen. Für Erdoğan bieten aber der Schulterschluss mit dem korrupten Diktator von Aserbaidschan und das Schüren von Feindseligkeit gegenüber dem Ausland eine willkommene Gelegenheit, von der katastrophalen Wirtschaftslage abzulenken. Die türkische Lira befindet sich im freien Fall; sie hat in einem Jahr fast die Hälfte ihres Kurswerts gegenüber dem Euro eingebüßt.

Die Präsidenten Russlands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs haben in einer gemeinsamen Erklärung die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen gefordert. Als Schutzherr der orthodoxen Armenier hatte Russland 1994 zur Zeit des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan die Türkei vor einer Intervention gewarnt. Es bleibt abzuwarten, ob und wann Präsident Wladimir Putin seine Zurückhaltung gegenüber dem Brandstifter in Ankara aufgeben wird. (Paul Lendvai, 5.10.2020)