Hände, fotografiert in der Demokratischen Republik Kongo: Bilder wie diese sollen Europa beim Erinnern helfen.

Foto: Joëlle Sambi Nzeba und Nicolas Pommier

Wer sich im Mezzanin des Weltmuseums vom Stiegenaufgang kommend rechts hält, stößt auf ein Schwarz-Weiß-Foto einer dunkelhäutigen Familie. Zwischen einem einfachen Vorhang und einem sorglos hingelegten Teppich sind zu sehen: ein Mann im Anzug, eine Frau in weißer Bluse mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß, dahinter sechs junge Menschen. Alle schauen ernst in die Kamera.

Nur der lange Rock der Frau in afrikanischem Druck gibt einen kleinen Hinweis auf die Bedeutung des Bildes: "Independence 1960" steht darauf. Das Foto aus dem Jahr 1963 zeigt die aus der Demokratischen Republik Kongo stammende Familie der Filmemacherin Monique Mbeka Phoba. Sie selbst wurde 1962 in Brüssel geboren, wo ihr Vater Diplomat war, und hat in ihren Arbeiten die Geschichte Kongos mehrfach thematisiert.

Systematisches Schweigen

Das Foto ist Teil der Ausstellung "Geschichten traumatischer Vergangenheiten – Gegenarchive künftiger Erinnerungen", die wiederum Teil des Forschungsprojekts "Genealogie der Amnesie" der Akademie der bildenden Künste Wien ist.

Die Familie der Filmemacherin Monique Mbeka Phoba: Die Künstlerin hat die Geschichte des Kongos in ihren Arbeiten mehrfach thematisiert.
Foto: Monique Mbeka Phoba

Das Projekt setzt sich seit Februar 2018 mit dem systematischen Schweigen zu und Vergessen von drei traumatischen Vergangenheiten Europas auseinander: dem Kolonialismus von Belgien, dem Nationalsozialismus und Holocaust in Österreich und dem Genozid während des Kriegs im ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er-Jahre.

"Es geht uns darum, Europa neu zu denken", sagt Marina Gržinić, Professorin an der Akademie der bildenden Künste in Wien und an der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana, die das Projekt leitet. Völkermord und der Versuch, das Geschehene vergessen zu machen, seien das verbindende Elemente der drei Regionen und Ereignisse.

Kübel und Schrubber

In Belgien wurden die Gräuel von König Leopold II. im Kongo Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zehn Millionen Todesopfer forderten, außerhalb akademischer Kreise jahrzehntelang kaum thematisiert.

2010 schlossen sich deshalb mehrere afrikanischstämmige Gruppen in Belgien zum Collectif Mémoire coloniale et Lutte contre les discriminations zusammen, um sich für die Erinnerung an den Kolonialismus und den Kampf gegen Diskriminierung zu engagieren. Erst im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung beschloss die Stadtverwaltung von Antwerpen, ein Standbild Leopolds II. zu entfernen.

Martin Krenn, "Österreich ist ein wunderbares Land, 2020"
Foto: Iklim Dogan

Dass traumatische Vergangenheiten nicht an irgendeinem Punkt der Geschichte fein säuberlich in Kisten verpackt in den Keller geräumt und dort für immer vergessen werden können, zeigt auch die Arbeit von Martin Krenn. "Österreich ist ein wunderbares Land", hat er auf den Boden gepinselt.

Das ist die Präambel des Regierungsübereinkommens zwischen ÖVP und Grünen. Auf dem Zitat stehen Kübel und Schrubber. Hebt man den Kopf, bestätigt sich die Vermutung, worauf der Künstler anspielt: An der Wand hängt ein Foto, das Juden während der Pogrome 1938 beim Wegschrubben antinazistischer Parolen von der Straße zeigt.

Achtzig Interviews

Für das Forschungsprojekt haben Marina Gržinić und der Soziologe Šefik Tatlić aus Bosnien-Herzegowina 80 Interviews mit Menschen geführt, die die traumatischen Ereignisse in Belgien/Kongo, Österreich und Ex-Jugoslawien zwar nicht selbst erlebt haben, sich aber mit den Ereignissen beschäftigt haben und ihre Wirkungen spüren.

Dazu zählen Historiker, Politikwissenschafter, Soziologinnen, Künstler, Migrantenorganisationen, politische Aktivistinnen oder Philosophen aus den drei Regionen. Die Interviews sind über die Website des Projekts verfügbar und sind die Basis für die weitere Auseinandersetzung mit dem Thema.

2018 wurde im Mumok in Wien ein Symposium veranstaltet, es folgten Workshops, Seminare, Vorträge und Präsentationen an verschiedenen Orten in Europa. Die Einbeziehung unterschiedlicher Menschen und Gruppen ermögliche eine viel bessere Reflexion der Ereignisse, als wenn nur Fachdisziplinen wie z. B. Historiker untereinander darüber diskutieren, sagt Marina Gržinić.

Das Projekt, das vom Wissenschaftsfonds FWF gefördert wird und bis Ende Juli 2021 läuft, habe gezeigt, dass die Vergangenheit sehr gegenwärtig sei. Vieles sei bekannt, aber oft würden die Worte dafür fehlen; oder es sei nicht erwünscht, darüber zu reden, wie auf dem Balkan über den Genozid und die grausame Politik gegen Muslime, Kosovo-Albaner, Roma und Sinti und LGBTQI-Communitys.

Über die Zukunft

"Wir beschäftigen uns in diesem Projekt mit der Vergangenheit, mit Aspekten des Erinnerns und Vergessens, aber das Ziel ist, über die Zukunft nachzudenken", ergänzt die Politikwissenschafterin Sophie Uitz von der Uni Wien, die am Forschungsprojekt und an der Ausstellung im Weltmuseum mitwirkt. Es gehe um die Frage, wie wir in Europa zusammenleben können, auch wenn wir unterschiedliche Biografien, Erfahrungen und Erlebnisse haben und hatten. Im Zentrum steht dabei eine Vision der "conviviality".

Der Begriff komme aus den britischen Cultural Studies des späten 20. Jahrhunderts, erklärt Sophie Uitz. Direkt übersetzt bedeutet "conviviality" Geselligkeit oder Fröhlichkeit. In diesem Zusammenhang geht es jedoch um mehr, nämlich um ein friedliches Zusammenleben, das Differenzen, Spannungen und traumatische Erfahrungen nicht leugnet. Angesichts einer zunehmend globalisierten Welt ist Conviviality seit etwa 15 Jahren ein neu diskutiertes Thema in sozio-kulturellen Theorien. (Sonja Bettel, 8.10.2020)