"Süddeutsche Zeitung"-Journalistin Cathrin Kahlweit ist zurück in Wien – und mit ihr die pointierten Analysen der österreichischen Politik.

Foto: STANDARD/Andreas Urban

Wien – Nach drei Jahren in London ist Cathrin Kahlweit seit September zurück in Wien, um für die "Süddeutsche Zeitung" über Österreichs Politik und Südosteuropa zu berichten.

STANDARD: Sie kommen von Boris Johnson zu Sebastian Kurz. Die beiden Regierungschefs trennt nicht nur die Frisur, haben Sie im "SZ"-Newsletter kürzlich geschrieben. Was noch?

Kahlweit: Boris Johnson möchte ein Meister der Message-Control sein, er ist aber das Gegenteil. Der Mann ist undiszipliniert, er ist nicht detailfest und langweilt sich mit Detailfragen. Er wird von der politischen Klasse überschätzt, die ihn für den Brexit an die Macht geholt hat. Er ist möglicherweise ein gebildeter, heiterer Mann, aber wo es um politische Verantwortung geht, hat er einen Hang zur Angeberei und zur Unsachlichkeit. Das ist unterhaltsam, und es hat Spaß gemacht, darüber zu schreiben; aber gleichzeitig ist es schmerzlich, dabei zuzusehen, wie die Regierung das demokratische Fundament des Landes untergräbt.

STANDARD: Und Sebastian Kurz?

Kahlweit: Kurz ist ein Meister der Message-Control, obwohl ich glaube, dass diese Krise selbst ihn an seine Grenzen bringt. Er ist bekanntlich ein großes politisches Talent – aber in meiner Wahrnehmung zu empfindlich und selbstgerecht. Ich glaube, dass Politiker Kritik ertragen müssen, um souverän Politik machen zu können. Gleichzeitig finde ich es schwierig, dass ihm österreichische Medien immer vorwerfen, er wolle sein Bild und seine Botschaft bis ins Detail kontrollieren. Dass das möglich ist – dazu gehören immer zwei Seiten.

STANDARD: Die Medien spielen artig mit.

Kahlweit: Die meisten spielen mit, das ist bedauerlich. Dabei wird natürlich auch Sebastian Kurz mit seinem gleichzeitig engen Themenfokus permanent mit einer Realität konfrontiert, in der es mehr braucht als harte Sprüche.

STANDARD: Etwa wenn es um Flüchtlinge geht?

Kahlweit: Damit ist er bis jetzt ja gut gefahren. Er hat in der EU die Player an seiner Seite, die dabei sind, diesen Machtkampf zu gewinnen. Wenn man sieht, was Ungarn und Polen mit ihren Blockaden erreicht haben, ist nicht zu bestreiten, dass Kurz derzeit auf der Seite der Stärkeren ist. Wie man das findet, ist eine andere Frage. Eine Wirtschaftskrise ist trotz des 50-Milliarden-Pakets aufgrund der steigenden Arbeitslosenzahlen, einer drohenden Insolvenzwelle und der sozialen Folgekosten eine gigantische Aufgabe. Eine Regierungspartei wie die ÖVP, die sich als einigen Machtblock inszeniert und dabei vor allem auf Umfragen schaut, hat mittelfristig ein Problem.

STANDARD: Ist bei Sebastian Kurz in Deutschland schon etwas der Lack ab? Kürzlich wurde er von der "Bild"-Zeitung, deren Liebkind er lange war, als "Kanzler herzlos" tituliert.

Kahlweit: Ach, die "Bild"-Zeitung macht ihre Kampagnen so, wie sie es braucht. Kurz sitzt mittlerweile auch schon seit ein paar Jahren an unterschiedlichen Schaltstellen der Macht. Der Zauber, die Überraschung sind weg. Er ist nicht mehr der Jungspund, der zum Sieg gestürmt ist, sondern ein erfolgsverwöhnter und routinierter und manchmal wenig origineller Politiker, wenn man seine Haltung und seine Aussagen zugrunde legt. Sein Wechsel der Koalitionspartner von den Blauen zu den Grünen hat ihm immerhin Luft verschafft.

STANDARD: Ist die österreichische Presse zu Kurz-hörig?

Kahlweit: Das würde ich so nicht konstatieren. Ich finde, dass die Medien in den letzten Jahren, zumindest in Teilen, aktiver und kritischer geworden sind. Das Ende von "Addendum" ist bedauerlich, deren Recherchen waren inhaltlich sehr fundiert. "Profil" macht mit seinen geringen Möglichkeiten nach wie vor guten Journalismus, und der "Falter" hat noch einmal zugelegt. Das Ibiza-Video und seine Folgen haben einige neue Debatten ausgelöst oder alten Debatten neuen Schwung gegeben. Wenn ich über Ibiza rede, muss ich mich dabei aber selbst etwas herausnehmen, weil ich, während das alles aufkam, in London war. Die "Süddeutsche Zeitung" wird von H.-C. Strache und der FPÖ seither als Teil der linkslinken Verschwörungsbande und als Mitschuldige geführt, aber ich bin natürlich stolz auf das, was die Kollegen geleistet haben.

STANDARD: Hätten Sie es für möglich gehalten, dass Heinz-Christian Strache so schnell sein politisches Comeback feiert?

Kahlweit: Ich habe nichts anderes erwartet. Wenn etwas Österreich ausmacht, dann das: Es ändert sich nichts (lacht). Dass Strache auf die Bühne zurückstrebte, weil er ein Zirkuspferd ist, das Geld braucht, weil er vom Applaus lebt, ein Narzisst ist und weil er möglicherweise erst einmal auf die Immunität setzt, liegt auf der Hand.

STANDARD: Und die FPÖ?

Kahlweit: Eine Zeitlang sah es so aus, als ob es einen brutalen Konkurrenzkampf zwischen Strache und der FPÖ gäbe, jetzt drängt Strache zurück, weil er sieht, dass er ohne die FPÖ letztlich nicht überleben kann. Ob die FPÖ ihn erhört, wird auch vom Ausgang der Spesenaffäre abhängen; da sieht es für Strache nicht gut aus. Die FPÖ weiß aber auch, dass sie ohne den geschickten Populisten blutleerer ist; die Abhängigkeit ist also beiderseits.

STANDARD: Eine Wiedervereinigung ist nicht ausgeschlossen?

Kahlweit: Wenn die Spesenaffäre eingestellt wird, was ich zwar nicht glaube, aber angesichts der Einstellungspraxis der österreichischen Justiz durchaus für möglich halte, wer weiß? Wenn man sich ansieht, was die österreichische Justiz in den letzten zehn, 15 Jahren alles für Verfahren eingestellt hat, dann kann man sich nur wundern.

STANDARD: Sie haben vor dem Abgang aus Wien vor drei Jahren in einem Interview mit dem "Falter" gesagt, dass Österreich besser darin sei, die Scherben aufzusammeln, statt zu verhindern, dass überhaupt etwas zu Bruch geht.

Kahlweit: Dass kann man positiv oder negativ sehen: als Verdrängungs- und Verleugnungsprozess oder als Fähigkeit zum Optimismus und zum Weitermachen. Das eine schließt das andere nicht aus; gesund ist es aber nicht. Österreich hat ein Demokratieproblem insofern, als die Strukturen, die Korruption und Selbstbedienung ermöglichen, fortbestehen.

STANDARD: Woran krankt es? An mangelnder Transparenz?

Kahlweit: An mangelnder Transparenz und Selbstzufriedenheit. Es gibt in diesem Land, wie auch der Untersuchungsausschuss zur möglichen Käuflichkeit der türkis-blauen Regierung regelmäßig bloßlegt, eine schwierige Binnenbeziehung zwischen Politik und Justiz und eine zu enge Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft. Das wird gern damit entschuldigt, dass das Land so klein sei, aber ich sehe auch keinen echten Reformwillen. Es gibt eine Art Wiedergängertum von Missetätern. Derzeit lese ich mich in den U-Ausschuss ein und habe das Gefühl, dass mir seit zehn – ach was, seit zwanzig Jahren immer dieselben Namen unterkommen. Ich rede jetzt nicht nur von Ministern, sondern vor allem von der zweiten Reihe, die wie in einer Umwälzanlage immer wieder nach oben poppt. Immer geht es um verdeckte Parteienfinanzierung und um Korruption, Untreue oder Bestechlichkeit. Man hat das Gefühl, das geht immer weiter. Und im Grunde scheinen ja alle ganz gut damit leben zu können.

Cathrin Kahlweit.
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STANDARD: Sie meinen Leute, die an die Macht gespült werden und bei der Postenvergabe zum Zug kommen?

Kahlweit: Das System ernährt sich immer selbst. Das tut es überall, aber hier ist es ungewöhnlich evident. Es gibt auch in Deutschland sehr viel Korruption, und wer weiß: Vielleicht wird sie ja nur klüger versteckt und verdeckt. Mir scheint jedoch, die deutsche Justiz arbeitet schneller und unabhängiger, sie urteilt härter, es gibt zudem eine andere Transparenz- und bekanntlich eine andere Rücktrittskultur.

STANDARD: Ein Strache könnte in Deutschland nicht mehr antreten?

Kahlweit: Schwer vorstellbar. Es gibt eine Liga von Politikern, die kommen durch ihren Populismus und die Dankbarkeit des Publikums hoch, dann bauen sie schweren Mist oder scheitern an sich selbst, und dann sind sie in der Regel weg. Strache war immerhin Vizekanzler. Jetzt dieses Comeback zu versuchen hat schon Kamikaze-Charakter.

STANDARD: Wenn Sie eine Prognose abgeben möchten: Schafft er die Fünf-Prozent-Hürde und damit den Einzug in den Wiener Landtag?

Kahlweit: Notorisch pessimistisch, wie ich bin, sage ich ja (lacht). Die rechte Konkurrenz ist aber auch sehr schwach.

STANDARD: Wie hat sich Wien sonst in den drei Jahren Ihrer Abwesenheit verändert?

Kahlweit: Schwarz-Blau ist weg, das macht einen klimatischen Unterschied. Ansonsten hatte ich vermutet, dass der politische Wechsel, die neue Koalition ein stärkeres Gefühl des Aufbruchs hervorbringen würde; aber viele Verkrustungen sind die gleichen geblieben. Ansonsten ist zum Glück auch das Wien, das ich liebe, das gleiche geblieben.

STANDARD: Welches Klima hätten Sie sich erwartet?

Kahlweit: Die türkis-grüne Regierung hat ja nicht umsonst einen Krisenmechanismus in der Flüchtlingsfrage eingebaut, weil sie wusste, dass das Thema nicht weggehen würde. Die Art und Weise, wie damit umgegangen wird, ist möglicherweise für die Grünen kurzfristig lebensrettend, langfristig aber schwierig. Das Machtgefälle ist sehr groß, das Machtbewusstsein der ÖVP ist es auch. Man sieht, dass diese Koalition, mehr noch als andere, an einem Grundproblem krankt: Das sind unterschiedliche Werte und grundlegend unterschiedliche Haltungen zu wesentlichen politischen Problemen. Schwarz-grüne Koalitionen gibt es viele in Deutschland, und sie funktionieren meist ganz gut, wenn die schwarze Seite eine liberale Haltung in Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen an den Tag legt. Das ist bei der ÖVP nicht der Fall. Insofern frage ich mich, wie lange das gutgeht.

STANDARD: Rechnen Sie damit, dass die Regierung bis zur nächsten regulären Nationalratswahl, die in vier Jahren stattfindet, hält?

Kahlweit: Wenn die Grünen irgendwann an die Herz-Lungen-Maschine müssen, weil ihnen die Basis wegläuft, dann werden sie sich grundlegende Fragen stellen. Man weiß auch, dass Regierungsbeteiligungen für den kleineren Partner immer, unabhängig von der gemeinsamen Wertebasis, sehr schwierig sind. Für die ÖVP ist es eine Win-win-Situation, sie kann sich im Zweifel ihre Partner aussuchen.

STANDARD: Sind die Grünen nur das Beiwagerl der ÖVP – und wirft die Partei aus Koalitionsräson ihre Grundsätze über Bord?

Kahlweit: Na ja, die werfen ihre Grundsätze ja nicht über Bord. Sie haben sie, aber die Koalitionsarithmetik macht es schwierig, das durchzusetzen. Die Frage Hopp oder Dropp wird sich also unweigerlich bald stellen.

STANDARD: Vermissen Sie Michael Häupl als Wiener Bürgermeister? Sie haben vor Ihrem Gang nach London gesagt, dass er sich nicht von Ihnen interviewen lassen wollte.

Kahlweit: Sagen wir so: Er hat sich nicht nach meiner Bekanntschaft gesehnt (lacht). Wien ist eine gut funktionierende, gut geölte Maschine. Die freundlichen Traditionsmachos bei den Sozialdemokraten verbreiten eine Aura der Gemütlichkeit, und sie sind geschickte Politikmanager. Ich mag die Stadt mit ihrem heiteren, robusten Charme jenseits des k. u. k. Goldglanzes sehr gerne. Das war auch ein Grund, warum ich zurückgekommen bin.

STANDARD: In Corona-Zeiten ist der Job als Auslandskorrespondentin nicht unbedingt einfach, oder?

Kahlweit: Früher war ich für Österreich, Ungarn und die Ukraine zuständig. Jetzt bin ich für den gesamten südosteuropäischen Bereich der EU verantwortlich und zusätzlich noch Sonderkorrespondentin für Osteuropa. Nehmen Sie Bulgarien: Da brennt gerade die Luft. In Rumänien waren Kommunalwahlen mit interessanten Ergebnissen. In Ungarn bewegt sich viel. Aber Corona macht alles sehr schwierig; viele Recherchen gehen nur noch telefonisch und per Zoom. Es ist ein völlig anderes Arbeiten. Ich finde das ziemlich deprimierend.

STANDARD: Wie beurteilen Sie das Corona-Management der österreichischen Regierung?

Kahlweit: Alle fliegen auf Sicht, nicht nur in Österreich. Die Ampel war chaotisch, die Kommunikation war schlecht, und die strengen Maßnahmen wurden zu früh gelockert, das alles stimmt. Und ja, es gibt Länder mit besseren Zahlen als Österreich, und ja, es gibt Länder mit schlechteren Gesundheitssystemen und besseren Zahlen. Trotzdem: Corona ist kein Grund zum Triumphieren, wenn eine nationale Performance besser oder schlechter ist. Dazu ist das Drama zu groß. Dass das Politikmanagement besser sein könnte, ist richtig, aber ich finde: Da kommt Hochmut vor dem Fall.

STANDARD: Die Corona-Zahlen sind ein Wettlauf zwischen den Ländern, und die österreichische Regierung wurde nicht müde zu betonen, wie gut das Land im internationalen Vergleich dastehe.

Kahlweit: Das ist wieder die Message-Control, die lange funktioniert hat. Die Zeitungen sind seitenweise voll mit Corona, manchmal leider auf Kosten anderer, politischer Recherchen. Und es gibt ja viele überwölbende Themen – von den sozialen Verwerfungen über die Ausbildungsproblematik und Bildungschancen der nächsten Generation bis zu Einsamkeit. Alles das unterschätzen wir immer noch völlig.

STANDARD: Viele Leute kritisieren Medien, dass sie der Politik in Sachen Corona blind folgen und kritische Wissenschafter nicht zu Wort kommen lassen.

Kahlweit: Wir müssen unterscheiden zwischen Corona-Leugnern und kritischen Wissenschaftern. Zwischen Aluhüten und Esoterikern braut sich eine Melange zusammen, wie wir das bei den Demonstrationen sehen. Dass sich auch noch die Rechten, die Nazis und die Klimawandelleugner draufwerfen, ist schlimm. Andererseits: Keine Regierung möchte geringere, moderatere Maßnahmen als andere setzen, weil sich niemand vorwerfen lassen möchte, schuld an höheren Todeszahlen zu sein, so wie es im Frühjahr den Briten passiert ist. Das Problem ist der nationale Wettlauf nach dem Motto: Wir besiegen Corona am besten. Da ist absurd und gefährlich.

STANDARD: Sie hatten ja bereits Corona. Ist das völlig überraschend gekommen?

Kahlweit: Ich hatte gerade meine Koffer ausgepackt, da habe ich Corona bekommen. Alle, die ich getroffen hatte, habe ich natürlich informiert; zum Glück habe ich niemanden angesteckt. Der Absonderungsbescheid der Stadt war in der Post, als meine Quarantäne schon vorbei war.

STANDARD: Hatten Sie es von London mitgebracht?

Kahlweit: Ich kam aus München. Ich höre oft: Du bist die Erste, die ich kenne, die Corona hatte. Ich kenne hingegen allein mindestens zwei Dutzend Leute, die Corona hatten, teils mit schweren Folgen. Die Mär, die zunehmend gepflegt wird, dass es doch eh keiner habe – und wenn, man es nicht merke, entspricht nicht meiner Lebenswirklichkeit. (Oliver Mark, 10.10.2020)