Der Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer sieht die jährlichen Traditionsfeiern zur Volksabstimmung kritisch. Konflikte könnten durch die ständigen Reinszenierungen prolongiert und verstärkt werden.

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"Natürlich, es wirkt nach, bis in die Gegenwart. Die Traumaverarbeitung dauert Generationen", sagt Klaus Ottomeyer, Traumatologe, Psychoanalytiker und langjähriger, scharfer Analyst der "Kärntner Seele".

Auch 100 Jahre danach ist diese Zäsur in der Geschichte Kärntens, als am 10. Oktober 1920 darüber abgestimmt wurde, ob das überwiegend von Slowenen bewohnte Gebiet im Südosten Kärntens bei Österreich bleiben oder in den jugoslawischen SHS-Staat eingegliedert werden sollte, noch immer ein wenn auch verdrängtes Element des kollektiven Bewusstseins, sagt Ottomeyer. Ein Bewusstsein noch vorhandener Ängste vor Verfolgung, Schuldgefühlen und Scham. Scham darüber, slowenische Wurzeln zu besitzen, aber auch darüber, mit "Überassimilierung" reagiert zu haben.

Ottomeyer spricht von einer zum Teil "verunsicherten Kärntner Identität". Der überwiegende Teil der Kärntner Bevölkerung habe slowenische Wurzeln, was oft verleugnet würde.

Slowenisches Votum

Kärnten hatte im November 1918 seinen Beitritt zur Republik Deutschösterreich erklärt. Kurz darauf besetzten Truppen des "Staates der Slowenen, Kroaten und Serben" (SHS) südliche Landstriche Kärntens. Es kam zum "Kärntner Abwehrkampf", an dem auch Wiener Arbeiter wie der spätere Bundespräsident Franz Jonas teilnahmen. Im Friedensvertrag von Saint-Germain wurde 1919 schließlich eine Volksabstimmung über die staatliche Zukunft des umstrittenen Südkärnten angeordnet.

Die Abstimmung endete mit einem überzeugenden Votum für Österreich. Trotz der dort mehrheitlich slowenischsprachigen Bevölkerung votierte eine Mehrheit von 59 Prozent für den Verbleib Südkärntens bei Österreich.

Assimilierungszwang

"Jene Familien, die damals vor 100 Jahren mit ‚Ja zu Österreich‘ gestimmt haben, haben sich aus ökonomischen und politischen Beweggründen für Österreich entschieden, sie fühlten sich mit Österreich verbunden. Aber dieselben Menschen, die sich loyal für Österreich entschieden hatten, wurden in der Folge als slowenische Minderheit diskreditiert und zur Assimilierung gezwungen", sagt Klaus Ottomeyer.

Noch vor der Abstimmung hatte die Kärntner Landesregierung eine großzügige Minderheitenpolitik versprochen, was aber bald vergessen war. Erst in den 1970er-Jahren wurden einige zweisprachige Ortstafeln aufgestellt und der daran entbrannte sogenannte Ortstafelstreit erst 2011 durch ein Verfassungsgesetz beigelegt.

Der politisch nun weitgehend beigelegte Konflikt hat jedenfalls Spuren im gesellschaftlichen Unterbau Kärntens hinterlassen. "Es stellt sich natürlich die Frage, ob durch die alljährlichen Traditionsfeiern der Konflikt immer wieder reinszeniert wird, dass alles zum Ritual wird", sagt Ottomeyer. Das wiederum verstärke nämlich die psychologischen Auswirkungen auf Teile der Bevölkerung, was er in seiner täglichen Arbeit als Psychotherapeut deutlich wahrnehme.

"Ich sehe das in meinen Therapiesitzungen: Je tiefer wir in den persönlichen Konflikt gehen, je intensiver wir die Familiengeschichte aufarbeiten, desto stärker kommen auch heute noch Gefühle der Angst, Scham und Schuld hoch. Traumata wirken ja bis in die zweite und dritte Generation nach. Die jahrelange Verfolgung und Assimilierung ist noch immer spürbar.

Angst und Scham

Man dürfe nicht vergessen, dass vor dem Ersten Weltkrieg ein Drittel der Kärntner Bevölkerung slowenisch gewesen sei und der Großteil der Kärntnerinnen und Kärntner noch heute slowenische Wurzeln besitze. "Viele Junge schämen sich heute dafür, aber auch dafür, dass ihre Eltern, ihre Großeltern die kulturelle Identität verleugnet und es zugelassen haben, dass die slowenische Minderheit unterdrückt wurde." Wobei – die Einteilung in bestimmte Ethnien sei ja ohnehin eine Irreführung, da eben 70 bis 80 Prozent der Kärntnerinnen und Kärntner in "gemischten" Familienverhältnissen leben, sagt Ottomeyer.

Aber die Jugend gebe Hoffnung, da wachse eine neugierige, weltoffenere Generation heran. "Und seit 2013 ist mit Peter Kaiser, dem roten Landeshauptmann, nach der Haider-Zeit ein Klima der Toleranz eingezogen", sagt Ottomeyer.

Gefährliche rechte Truppe

Natürlich, die deutschnationalen Kräfte seien nicht verschwunden und stünden in den Startlöchern "und warteten auf eine Gelegenheit der Rückkehr". Dazu geben ihnen die sogenannten Corona-Rebellen eine gute Gelegenheit, wieder ins Spiel zu kommen. "Hier versammeln sich rechte Verführer, eine gefährliche Truppe", sagt Ottomeyer. Wie ernst das gemeint ist, habe er vor wenigen Tagen verspürt.

"Ich war mit dem Rad unterwegs, als ein Auto neben mir stehenblieb. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter und schrie mich an: 'Volksverräter, Obersau!' Und fuhr davon."

Der Psychoanalytiker Klaus Ottomeyer sieht die jährlichen Traditionsfeiern zur Volksabstimmung kritisch. Konflikte könnten durch die ständigen Reinszenierungen prolongiert und verstärkt werden. (Walter Müller, 8.10.2020)