Schöner Schulstart, schöne Schulstadt? Über Wien und die Bildung.

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Hier stehen sie, die bildungspolitischen Leuchttürme des Landes. Die beitragsfreien Kindergärten. Die Schulen, in denen über den ganzen Tag verteilt Zeit für Bildung bleibt. Hier sind die Gratisnachhilfeangebote zu finden. Die Feriencamps, die nicht nur die neun langen Wochen im Sommer, sondern auch die hinzugekommene einwöchige Herbstpause überbrücken helfen. Wien, die Bildungshauptstadt?

Die Geschichte lässt sich auch von der anderen Seite erzählen: Da geht es dann um junge Menschen, deren Sprachkenntnisse nicht oder kaum für den Unterricht ausreichen. Um unterdrückte Musliminnen und gewaltbereite Jungmachos. Statt voller Leuchttürme ist Wien nach dieser Leseart mehr eine Ansammlung von "Brennpunkten" – und die dazugehörigen Schulen werden dann auch gerne reißerisch als "Brennpunktschulen" bezeichnet. Ein Totalversagen?

Zwei Befunde, eine reale Grundlage: An 70 Standorten leben die Wiener Bildungsbehörden aktuell vor, wie verschränkter, ganztägiger Unterricht aussehen kann. Gut gemacht, gilt diese Schulform vielen Expertinnen und Experten als wichtiges Instrument, um Bildungsbenachteiligungen auszugleichen. Das Hauptargument: Wer – insbesondere im stark elternabhängigen, österreichischen Bildungssystem – aus verschiedensten Gründen in der Schule mehr oder weniger auf sich allein gestellt ist, hat – eingebettet in ein Umfeld bestehend aus Lehrkräften, Freizeitpädagogen, Freundinnen und Freunden – mehr Möglichkeiten zur eigenen Entwicklung als im Halbtagsbetrieb.

Gut aufgestellt bei den Kleinsten

Auch dass Bildung schon ganz früh beginnt, hat man in der Hauptstadt verstanden: durchgehend lange Kindergartenöffnungszeiten (nur vier von 2791 Standorten machen schon mittags zu), wenige Schließtage (im Schnitt 51 Wochen offen pro Jahr), keine Kosten. Bei den ganz Kleinen, den Null- bis Zweijährigen, erreicht man so bereits 44 Prozent – und damit deutlich mehr als in allen anderen Bundesländern.

Bei den Drei- bis Sechsjährigen haben hingegen die föderalen Mitstreiter höhere Besuchsquoten: 97,3 Prozent sind es etwa in Niederösterreich. Aber auch in Wien besuchten laut Zahlen der Statistik Austria im Schuljahr 2019/20 insgesamt 92,6 Prozent dieser Altersgruppe bereits vor dem verpflichtenden Kindergartenjahr eine elementare Bildungseinrichtung. Qualitativ unterscheidet sich in der Hauptstadt wenig vom Rest Österreichs. Eine Kindergartenpädagogin für bis zu 25 Kinder – vielleicht ein Mitgrund, warum fast zwei Drittel der Eltern ihren Nachwuchs lieber in private Bildungseinrichtungen schicken. Ausgebildete Sprachförderkräfte? Sucht man auch hier vergebens.

Es geht weiter mit der Volksschule: Reicht die öffentliche gleich ums Eck für den eigenen Nachwuchs? Oder besser auf die Suche begeben? Das kommt unter anderem darauf an, wie gut sich die Eltern im österreichischen Bildungssystem auskennen, wie wichtig ihnen Bildung ist – und wo sie wohnen.

Denn Schule in Wien ist überall eine andere, je nachdem, in welchem Bezirk eine Familie zu Hause ist. Plakativ formuliert: Während die Hietzinger sich händeringend nach ein bisschen Diversität in den Reihen der Schülerinnen und Schüler sehnen, haben die Favoritner so viel davon, dass der gemeinsame Nenner Deutsch mitunter schwer zu finden ist.

Problem oder Ressource?

Laut aktuellem Integrationsbericht hat knapp mehr als die Hälfte der Wiener Schülerinnen und Schüler eine nichtdeutsche Umgangssprache. Das sagt im Umkehrschluss noch nichts darüber aus, wie viele von ihnen nicht gut Deutsch sprechen. Fast 30 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben eine ausländische Staatsangehörigkeit. Dass Mehrsprachigkeit vor allem als Problem und weniger als Ressource gesehen wird, vor allem, wenn es sich nicht um die Bilingualitätspaare Deutsch-Englisch oder Deutsch-Französisch handelt, ist kein Wien-Phänomen, kommt hier aber besonders oft vor. Dass Bobo-Kinder in Grenzbezirken überdurchschnittlich oft in den reformpädagogisch als besonders erstrebenswert definierten Mehrstufenklassen landen, ist auch so ein ungeschriebenes Gesetz des großstädtischen Bildungssystems.

Und dann gibt es den Faktor Armut. Mehr als 300.000 Kinder und Jugendliche gelten in Österreich als armutsgefährdet, eine erkleckliche Anzahl von ihnen lebt in der Hauptstadt. Das hat Auswirkungen auf viele Bereiche des Lebens, auch und insbesondere auf den Bildungsweg dieser jungen Menschen. Wer existenzielle Sorgen hat, wer den Kopf nicht frei bekommt fürs Lernen, wem aufgrund seiner Herkunftsfamilie weniger zugetraut wird, egal, wie clever er oder sie ist – die Chancen auf sozialen Aufstieg durch Bildung bleiben gering. Es liegt am individuellen Engagement von fähigen Pädagoginnen und Pädagogen, wenn sie dem etwas entgegenhalten können. Kann ein Chancenindex, also Geld und Personal, das auf Basis bestimmter Faktoren wie Bildungsgrad und soziales Umfeld im Elternhaus verteilt wird, helfen? Manche mutmaßen, ihm könnte ein ähnliches Schicksal drohen wie der Corona-Ampel: mehr oder weniger nutzlos. Das Argument: Man wisse ohnehin, welche Schulen besonders dringend zusätzliche Ressourcen brauchen. Es scheitere mehr an der Umsetzung: daran, dass Schulleiter dann von der übergeordneten Behörde auch bekommen, worum sie bitten.

Insgesamt gibt es in Wien 48 Stellen für Schulsozialarbeit und 46 Schulpsychologinnen – bei rund 240.000 Schülerinnen und Schülern. Den Neos ist das zu wenig. Sie gehen mit der Forderung nach einer Schulsozialarbeiterin, einem Schulsozialarbeiter pro Standort ins Rennen. Die Grünen wollen 5.000 Gratislaptops verteilen. Die FPÖ hat ein paar knackige Scharia-Sprüche im Programm und wettert gegen den Einzug der Central European University auf dem Gelände des ehemaligen Otto-Wagner-Spitals. Das Team Strache fordert in seinem Pakt für Wien die "Schließung sämtlicher muslimischer Kindergärten". Und die SPÖ verspricht, die Zahl der Ganztagsschulplätze bis 2025 auf 120 zu steigern. (Karin Riss, 8.10.2020)