Waisenkind Miles (Benjamin Evan Ainsworth) gibt dem Kindermädchen Dani (Victoria Pedretti) Rätsel auf.

Foto: Netflix

Kinderwünsche kann man selten abschlagen. Wenn die süße, kleine Flora (Amelie Bea Smith) am Abend von ihrer neuen Au-pair statt um eine Gutenachtgeschichte nur um ein Versprechen bittet, nämlich dass die Gouvernante des Nachts bis zum Morgengrauen tunlichst im eigenen Zimmer bleibe – wer könnte da schon Nein sagen? Noch dazu, wo der soeben noch so übermütige kleine Fratz plötzlich ganz ernst wird und die Bitte mehr einem Befehl gleicht.

Au-pair Dani (Victoria Pedretti) stimmt bereitwillig zu. Komisch zwar, aber was soll's, so viel Erfahrung hat die junge Amerikanerin auf diesem Gebiet nicht, und überhaupt. Überflüssig zu sagen, dass sich Dani nicht an die Direktive des Kindes hält. Schon in der ersten Nacht verlässt sie das Zimmer und bricht damit ihr Versprechen. Selber schuld.

Mini-Spoiler im ersten Satz

Es passiert – sorry, kleiner Spoiler – wider Erwarten und gegen jegliche Logik des Horrorgenres: nicht wirklich etwas. Bis auf die Tatsache, dass die kleine Flora am nächsten Morgen über den Vertrauensbruch fuchsteufelswild ist – und zwar zu Recht, wie sich zeigt. Denn das stattliche Herrenhaus, in dem die neue Netflix-Serie "The Haunting of Bly Manor" ab Freitag spielt, ist voller unheimlicher Wesen.

Da steht ein Mann im Fenster, den es eigentlich gar nicht mehr gibt, dort starrt eine dunkle Gestalt mit Glühaugen, das unglücklich verstorbene Kindermädchen setzt sich in Szene, die rachsüchtige Hausherrin macht einen schlechten Eindruck, gesichtslose Wesen sorgen für Angst und Schrecken unter den Lebendigen. "Bly Manor" ist das zweite Stück der "The Haunting"-Reihe, die Klassiker des Genres neu interpretiert. 2018 gelang Netflix mit "The Haunting of Hill House" ein gepriesenes Horrorepos nach dem 1959 erschienenen gleichnamigen Roman von Shirley Jackson.

Netflix

"The Haunting of Bly Manor" folgt Henry James' 1898 erschienene Spuknovelle "The Turn of the Screw", in der eine junge Gouvernante von einem Mann (In der Serie: Henry Thomas) angeheuert und beauftragt wird, um sich um Nichte und seinen Neffen im Landhaus der Familie zu kümmern, nachdem diese in seine Obhut gefallen sind. Als sie auf dem Anwesen der Blys ankommt, beginnt sie Erscheinungen zu sehen, die das Anwesen heimsuchen. Im Wechsel aus Rückblicken entspinnt sich ein psychologisch aufgeladenes Gruseldrama.

Was steckt dainter? Im Horrorfilm sind das Begehren und die Sehnsucht die Ursache aller Probleme. Nicht nur Au-pair Dani hat damit zu kämpfen, auch die anderen Bewohner von Bly Manor schleppen ihr Binkerl aus der Vergangenheit mit: Die Waisenkinder Flora und ihr nicht minder merkwürdiger Bruder Miles (Benjamin Evan Ainsworth) vermissen ihre Eltern, der Koch Owen (Rahul Kohli) trauert um seine Mutter, die um Harmonie bemühte Haushälterin Hannah Grose (T'Nia Miller) vermisst ihr Leben und das Kindermädchen. Diese Gemeinsamkeit bindet sie zu einer Gesinnungsgemeinschaft, denn natürlich gibt es ein schreckliches Geheimnis. Hui buh!

Warum man es sehen kann: Wer sich näher mit dem Werk von Henry James auseinandersetzen möchte und ein Bedürfnis auf Vollständigkeit hat: "The Turn of the Screw" gilt als James wirkmächtigste Geschichte und durchlief zahlreiche literaturwissenschaftliche, philosophische und psychologische Interpretationsschleifen. Die Story – eine Frau im Ringen mit (inneren und äußeren) Dämonen wurde mehrfach verfilmt, zum ersten Mal 1959 gleich imposant mit Ingrid Bergman unter der Regie von John Frankenheimer. Freunde von "Downton Abbey" und Rosamunde Pilcher dürften ebenso auf ihre Rechnung kommen: Die Landschaftsaufnahmen sind traumhaft. Und es gibt eine reizende Liebesgeschichte – die Selbstverständlichkeit, mit der Netflix queere Beziehungen in Plots aufnimmt (siehe zuletzt etwa "Ratched"), ist ein Gewinn.

Muss man das gesehen haben? Leider kommt "The Haunting of Bly Manor" in keiner Phase an den intensiven Vorgänger "Hill House" heran. Der Transfer der Entwicklungsgeschichte der Dani in die Gegenwart funktioniert nicht, die Figuren bleiben in ihren Verwandlungen – pardon für den Kalauer – leblos. Die Perspektive bleibt unklar. Horrorserien leben von der Lust am Interpretieren – hier ist man schnell am Ende. Dazu kommt die Figur der Erzählerin (Kate Siegel, wie Henry Thomas schon in "Hill House" in einer Hauptrolle zu sehen), die wie damals in "Desperate Housewives" mit sanfter Stimme Erklärungen und Weisheiten einstreute – und schon damals nervte.

Stattdessen schauen: "Penny Dreadful", "American Horror Story", und – für Nostalgiker immer ein unheimlicher Genuss – "Akte X". (Doris Priesching, 9.10.2020)

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