Sozialminister Rudolf Anschober spricht sich für weitere Erhöhungen des Arbeitslosengeldes aus.

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Wien – Die wirtschaftliche und soziale Krise infolge der Corona-Pandemie treffe jene Menschen am stärksten, die schon davor am Rand der Gesellschaft in Armut gelebt hätten: Ausländerinnen und Ausländer, Alleinerziehende, Familien mit vielen Kindern und bildungsferne Familien.

Doch neue Gruppen seien hinzugekommen: etwa Selbstständige und Ich-AGs sowie Künstlerinnen und Künstler, denen praktisch über Nacht sämtliche Aufträge gecancelt worden seien.

Langer Atem gegen Armut

Um das Risiko der Betroffenen, in Armut und Ausgrenzung zu verharren, möglichst zu minimieren, brauche es – neben kurzfristigen Maßnahmen wie dem Erhöhen von Sozialzahlungen – auch langfristig stützende Schritte, weit über das ungewisse Ende der aktuellen Gesundheitskrise hinaus.

Denn die Armut nehme am stärksten mehrere Jahre nach dem akuten Einbruch zu. Wenn Hilfen endeten, drohe sie, sich zu chronifizieren.

Anschober für Basiskonto

So weit zwei zentrale Aussagen einer Pressekonferenz mit Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) zu den "Folgen der Pandemie für armutsgefährdete Personengruppen" am Donnerstag in Wien, dem zweiten Pressegespräch über die sozialen Auswirkungen von Corona in Österreich.

Anschober hat dazu eine umfangreiche Studie in Auftrag gegeben. Der dritte Teil wird kommenden Donnerstag präsentiert. Diese Woche kündigte er unter anderem eine Informationsoffensive über das Basiskonto an, das ohne Überziehungsrahmen laut EU-Recht jedem Menschen offensteht. Er sprach sich für weitere Erhöhungen des Arbeitslosengeldes aus – sowie, zur langfristigen Finanzierung der Krise, für eine "gerechte Lastenverteilung am Tag danach"..

Plus 57 Prozent Arbeitslosigkeit bei Ausländern

Davor waren die Sozialwissenschafterin Karin Heitzmann und der Sozialexperte Martin Schenk am Wort. Die massive Zunahme der Arbeitslosigkeit infolge des Lockdowns – plus 41 Prozent im Vorjahresvergleich mit einer Steigerung von 57 Prozent bei Ausländerinnen und Ausländern sowie von 52 Prozent bei unter 25-Jährigen – habe sich in mehr Sozialhilfeanträgen zwischen März und Mai niedergeschlagen.

Danach sei die Antragszahl in den meisten Bundesländern wieder gesunken, sagte Heitzmann. Ob dies auch mit härterer Gangart gegenüber Antragstellern zu tun habe, sei unklar.

Verdoppelung der Hilfesuchenden bei Essensausgaben

Bei Essenausgaben, Sozialmärkten und Sozialberatungen, etwa von der Caritas und der Diakonie, habe sich die Nachfrage ab April mehr als verdoppelt. Die Hälfte der Hilfesuchenden habe gemeint, nie im Leben geglaubt zu haben, in eine solche Situation zu kommen, zitiert Heitzmann in ihrem Bericht den Generalsekretär der Wiener Caritas, Klaus Schwertner.

Das Homeschooling habe vor allem Alleinerziehende an ihre Grenzen gebracht. Zwei Drittel hätten sich dadurch als "sehr belastet" bezeichnet. In bildungsfernen Familien seien viele Kinder für die Schulen nicht erreichbar gewesen: "Das ist für die Zukunft keine gute Nachricht. Armut und Bildungslücken sind eng miteinander verbunden", sagte die Sozialwissenschafterin.

Bildung, Vereinbarkeit, höhere Sozialleistungen

Um bei den absehbaren mittelfristigen Problemen gegenzusteuern, gelte es, Maßnahmen, die auch schon vor Corona gegen die Armut eingesetzt wurden, zu verstärken. Es müsse "in Menschen, also in ihre Bildung, Ausbildung, Qualifikation und Gesundheit, investiert werden".

Die Vereinbarkeit von Arbeit und Familie müsse verbessert, die Sozialleitungen angehoben werden: "Derzeit sind diese in Österreich niedriger als die Armutsgrenze", sagte Heitzmann.

"Soziale Fieberthermometer"

Armutsexperte Schenk präsentierte eine qualitative Erhebung. Armutsgefährdete und -betroffene wurden in einer Reihe von Fokusgruppen befragt, wie sich ihre Situation durch die Seuche verändert habe: "Prekär Beschäftigte, Alleinerziehende, Ich-AG, Künstlerinnen und Künstler, Reisebegleiterinnen und -begleiter und andere", zählte er auf.

Diese Menschen, so Schenk, hätten sich "als Sensoren und soziale Fieberthermometer" der laufenden Entwicklungen herausgestellt: "Sie merken als Erste, was die Mehrheit erst viel später mitbekommt." Etwa dass die Preise für Obst und Gemüse ab März wenig, aber kontinuierlich gestiegen seien; für Menschen am Existenzminimum ein großes Problem.

Arme spürten Freiheitsbeschränkung stärker

Auch die beginnenden Beschämungs- und Spaltungstendenzen in der Gesellschaft infolge der Pandemie – sprich: die Suche nach Sündenböcken – spürten sie schon früher. Und sie seien radikaler von Freiheitseinschränkungen betroffen: Menschen in armen Mehrkindfamilien hätten während des Lockdowns in ihren überbelegten Wohnungen "nicht die Freiheit gehabt, sich zurückzuziehen".

Isolierten und einkommensschwachen Alleinlebenden wiederum sei "die Freiheit entzogen worden, Nähe zu anderen Menschen zu haben". Das habe viele in große Einsamkeit gestürzt, schilderte Schenk.

Er zitierte eine Dame aus eine Fokusgruppe, die eine am Fenster Geige spielende Nachbarin inständig gebeten habe, noch ein Stück zu spielen: "Hier bei mir daheim steht alles still. Ich bin nur noch allein." (Irene Brickner, 8.10.2020)