"Der Kulturbetrieb hat im Überschwang der Tourismusströme auf die Wienerinnen und Wiener vergessen", meint Politologe Michael Wimmer.

Foto: Michael Wimmer

Das von ihm zuletzt herausgegebene Buch "Kann Kultur Politik? Kann Politik Kultur? Warum wir wieder mehr über Kulturpolitik sprechen sollten" (De Gruyter, 2020) war bereits vor der Erfahrung der Pandemie in Druck. Jetzt aber, meint Michael Wimmer, würde dieser Appell nur umso dringlicher erscheinen. Der Leiter des bildungs- und kulturpolitischen Thinktanks Educult hält eine völlige Neuausrichtung der Kulturpolitik für geboten.

STANDARD: Am Sonntag wird in Wien gewählt. Vor welchen Herausforderungen steht die Stadt kulturpolitisch?

Wimmer: Es kann sein, dass der Wiener Kulturbetrieb heute eine ähnliche Entwicklung wie die katholische Kirche erfährt. Dass ihm weite Teile der Gesellschaft und mit ihr der Politik nicht mehr die Bedeutung zumessen, die er sich selbst zuschreibt. Die Nachfrage ist zusammengebrochen, ein Geschäftsmodell, dessen Ursprünge aus dem 19. Jahrhundert stammen, ist von einem Tag zum anderen an sein Ende gekommen. Wir haben geglaubt, der Kulturbetrieb, so wie er ist, würde ewig funktionieren. Es wäre an der Zeit, dass man sich mehr an der Nachfrageseite und weniger an der Angebotsseite orientiert.

STANDARD: Sie fordern eine stärkere Ausrichtung auf den Konsumenten? Ist das nicht ein sehr marktwirtschaftlicher Zugang, eher dem angelsächsischen vergleichbar?

Wimmer: Den marktwirtschaftlichen Zugang haben die hochsubventionierten Kultureinrichtungen zuletzt in Perfektion betrieben. Die weitgehende Uniformierung ihres Programmangebotes ist das Ergebnis. Dieser Deal wurde in den Tagen von Covid-19 aufgekündigt, die Nachfrageseite ist weggebrochen. Mein Plädoyer richtet sich nicht danach, dem Publikum möglichst nach dem Mund zu reden. Sehr wohl aber, es als Co-Akteur des Betriebs ernster zu nehmen, neugierig zu sein, mehr von ihm wissen zu wollen, ihm neue Partizipationschancen zu eröffnen. Damit würde Kunst zu einem gemeinsamen Anliegen aller Beteiligten. Mit dem Schielen auf Quote bzw. Nivellierung hat das gar nichts zu tun, ganz im Gegenteil.

STANDARD: Kunstschaffende werden sich in ihrer Autonomie gegängelt fühlen, wenn sie sich zu sehr an Publikumswünschen orientieren sollen.

Wimmer: Immer mehr Kunstschaffende fühlen sich in diesen Tagen in ihrer Existenz bedroht. Die meisten von ihnen wären nur zu gerne bereit, ihre Autonomieansprüche auf diejenigen auszudehnen, mit denen ihr Schaffen erst zu dem wird, was sie intendieren: eine gemeinsame Kunsterfahrung auf Augenhöhe. Die Monstranz der Autonomie ist zur Zeit nicht von Versuchen eines neuen Miteinanders von Künstlern und an ihrem Schaffen Interessierten gefährdet, sondern von politischen Interventionsversuchen, wie wir sie zur Zeit in unserem Nachbarland Ungarn beobachten können.

STANDARD: Die Corona-Pandemie hat aufgezeigt, dass der Kulturbetrieb als Paradebeispiel sozialer Ungleichheit gelten muss: ein "The winner takes it all"-Markt mit wenigen großen Profiteuren und einer Heerschar an Prekarisierten.

Wimmer: Wir erleben in diesen Tagen das Ende des Kulturbetriebs, wie wir ihn kennen und lieben. Die Geschichte des Zusammenbruchs der verstaatlichen Industrie vor nunmehr 30 Jahren könnte uns zu denken geben: Die Beharrungskräfte für das Bestehende werden sich nochmals aufbäumen, und doch wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Viele Akteure, vor allem aus dem freien Bereich, werden aufgeben und sich eine andere Beschäftigung suchen müssen. Gestärkt aus der Krise werden einerseits diejenigen gehen, die sich als Erinnerungsstücke einer vermeintlich besseren Vergangenheit in die eigene Musealisierung retten können. Und andererseits diejenigen, die es verstehen, näher an die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Menschen zu rücken und mit ihnen neue Formate und Settings zu erproben. Vorgefasste Rezepte dafür gibt es nicht. Jetzt wäre der Zeitpunkt für eine Kulturpolitik, die dazu ermutigt, Experimente zu wagen, Neues auszuprobieren.

STANDARD: In Wien ist seit zwei Jahren die Quereinsteigerin Veronica Kaup-Hasler für Kulturpolitik verantwortlich. Sie will mehr Raum für Kunst und Kultur in den Randbezirken schaffen. Kunst soll Inklusion und Integration fördern. Kann das gelingen, oder ist das nur ein frommer sozialdemokratischer Wunsch?

Wimmer: Kaup-Hasler ist ein großer Gewinn für das Wiener Kulturleben. Sie hat sich als eine verlässliche Anwältin der Interessen der Künstler erwiesen. Die Vielfalt der Wiener hingegen, die deren Angebot nutzen, bleibt im Vergleich dazu blass. Im Überschwang der internationalen Tourismusströme hat der Kulturbetrieb ganz offensichtlich seine Neugierde für die Wienerinnen und Wiener verloren. In den von Ihnen angesprochenen sogenannten Randbezirken wohnt die große Mehrheit der Wiener Bevölkerung. Kulturpolitisch müssten sie also vielmehr ins Zentrum rücken. Persönlich neige ich der Ansicht zu, dass Kulturpolitik in ihrem gegenwärtigen Zustand bestenfalls punktuell zu Inklusion und Integration beitragen kann. Dafür eignen sich Maßnahmen anderer Politikfelder, etwa Sozial- und Bildungspolitik, wesentlich mehr. Aber außerhalb des Gürtels eine flexible kulturelle Infrastruktur zu schaffen, in denen sich Menschen im Rahmen neuer Settings und Formate auf Augenhöhe begegnen können, gehört sicher zu den Hauptaufgaben einer Wiener Kulturpolitik der nächsten Jahre.

STANDARD: Und was muss sich innerhalb des Gürtels ändern?

Wimmer: Die großen Kulturtanker im Zentrum haben es in der Hand, ob sie weiter warten wollen, bis die Touristenströme wieder anrollen oder ob sie nicht doch ihr Geschäftsmodell überdenken sollten, weil wohl nichts mehr so werden wird, wie es einmal war.

STANDARD: Kommen wir zu einer anderen Debatte. Durch Denkmalstürze im Zuge von Black Lives Matter wurde das Denkmal für Karl Lueger, der radikaler Antisemit war, wieder zum Thema gemacht. Wie stehen Sie dazu?

Wimmer: Ich freue mich darüber! Mit dieser Initiative erfüllt ein Denkmal endlich wieder seinen herausragenden Zweck. Dieser besteht für mich darin, den Streit um unterschiedliche gesellschaftspolitische Positionen zu befördern. Mit oder ohne Hinweistafel wird seither Lueger nicht mehr bloß affirmiert; statt dessen rückt der Antisemitismus im "Melting Pot Wien" des beginnenden 20. Jahrhunderts als Referenz aktueller Stadtentwicklung in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Persönlich würde mir nach wie vor die irritierende Neigung um 3,5 Grad nach rechts, wie sie Studierende der Angewandten bereits vor zehn Jahren vorgeschlagen haben, gefallen. Die jetzige Auseinandersetzung aber ist noch besser, wenn es gelingt, mit Hilfe des umkämpften Denkmals das Bild dieses Populisten der ersten Generation in möglichst vielen Köpfen zurechtzurücken. Die gegenwärtige "Schandwache" schafft dafür gute Voraussetzungen.

STANDARD: Bei dieser Protestaktion von Gegnern des Denkmals kam es auch zu einer Gegenaktion der rechtsextremen Identitären. Deren Strategie ist es, linken Aktionismus auf rechts gedreht zu kopieren. Ist eine solche Polarisierung nicht gefährlich?

Wimmer: Die Verschärfung der Logik der Konkurrenzgesellschaft hat notwendig die Teilung der Menschen in Gewinner und Verlierer zur Folge. Der Traum von einer "nivellierenden Mittelstandsgesellschaft" ist ausgeträumt; stattdessen erleben wir eine Phase der Polarisierung, eine gute Grundlage für das Wiederaufkommen rechtsextremer Bewegungen. Weite Teile des Kulturbetriebs haben diese politische Entwicklung noch nicht wirklich antizipiert. Der Verlust des kulturpolitischen Diskurses hat ihn auf ein Nischendasein verwiesen, woraus er immer wieder seine Bedeutung beteuert, ohne noch einmal signifikante Beiträge zu brennenden Problemen der Zeit erbringen zu können. Dabei müssten gerade jetzt "die Fetzen fliegen", und sei es darum, die Identitären dorthin zurück zu jagen, wo sie hergekommen sind.

STANDARD: Kann man wirklich mit Rechtsextremen streiten, wo sie doch wie Rechtspopulisten auf eine Zerstörung der offenen Gesprächskultur abzielen?

Wimmer: Weite Teile der Zerstörung einer offenen Gesprächskultur hat die gegenwärtige Verengung des liberalen Diskurses selbst zu verantworten: Cancelling Culture oder die Forderung nach Political Correctness bilden zunehmend das autoritative Spiegelbild dessen, was Demokraten bei den Rechtsextremen zu Recht ablehnen. Ich halte es da lieber mit den Prinzipien einer "wehrhaften Demokratie", die um ihre Stärke weiß und bereit ist, wo immer notwendig, mit aller Kraft ihren Feinden entgegen zu treten.

STANDARD: Kultur ist ethnisch verstanden zu einem Kampfbegriff der Neuen Rechten geworden. Hat die liberale Mitte beim Thema Migration Versäumnisse zu verantworten?

Wimmer: Der kulturpolitische Diskurs ist in den letzten Jahren weitgehend zusammengebrochen. Spätestens mit der Zusammenlegung der Kunst- mit der Kultursektion im Bundeskanzleramt 2015 hat staatliche Kulturpolitik zu erkennen gegeben, dass sie kein inhaltliches Anliegen mehr hat, sondern sich auf das Verwalten des Bestehenden beschränken möchte. Die Rechtspopulisten haben dieses Vakuum virtuos aufgegriffen und den kulturpolitischen Diskurs für sich vereinnahmt. Seither müssen wir uns wieder herumschlagen mit essentialistischen Kulturvorstellungen, die darauf abstellen, Menschen unversöhnlich gegeneinander zu stellen und sich so wunderbar zur Übertünchung der wachsenden sozialen Konflikte eignen. Gerade in dieser Zeit waren weite Teile des Kulturbetriebs kulturpolitisch orientierungslos darauf verwiesen, sich im Kreis zu drehen, um in diesen Tagen umso härter auf dem Boden der neuen Realitäten aufzuschlagen.

STANDARD: Also hätte die liberale Mitte das Thema Migration und Integration offensiver ansprechen und problematisieren sollen? Es nicht vom Tisch wischen, sondern auch kulturpolitisch nach Lösungen suchen?

Wimmer: Mein Problem ist, dass das, was Sie "liberale Mitte" mit seinem tendenziell alle anderen ausgrenzenden kulturellen Habitus nennen, zunehmend an den gesellschaftlichen Rand gerückt ist. Sie ist nicht mehr repräsentativ für die Vielfalt der österreichischen Bevölkerung. Nicht zufällig haben Kurz und Co mit Kultur so gar nichts mehr am Hut. Der Kulturbetrieb hat es jedenfalls verabsäumt, den demografischen Veränderungen hinreichend Rechnung zu tragen oder gar neue Allianzen mit den zunehmend vielfältigen Milieus mit ihren ganz unterschiedlichen kulturellen Vorlieben zu schließen. Soweit ich das überblicke, haben sich zum Beispiel in den letzten Jahren eigene türkische und serbische Kulturszenen herausgebildet, ohne dass das von der Kulturpolitik auch nur zur Kenntnis genommen worden wäre. Mit dieser Ignoranz befördert die Kulturpolitik genau jene Parallelgesellschaft, die sie andernorts zu bekämpfen vorgibt. (Stefan Weiss, 9.10.2020)