Obdachlose Migranten hausen auf einem verwahrlosten ehemaligen Fabrikgelände.

Foto: Adelheid Wölfl

Als der weiße Kombi mit den Essenspaketen vorfährt, rennen plötzlich hunderte junge Männer gleichzeitig aus der aufgelassenen Fabrik. Von allen Seiten kommen sie und versuchen, eine Ration zu ergattern. Denn eines ist klar: Es wird viel zu wenig sein. Der Regen prasselt in diesen Herbsttagen kalt auf die Migranten herab, von denen sich manche mit Decken schützen.

Zu Beginn stellen sie sich noch in einer Reihe vor dem Wagen auf, aber als klar wird, dass das Rote Kreuz hier nicht alle versorgen kann, kommt es zu einer Balgerei um billiges, wertloses Weißbrot. Einige der Männer lesen die verdreckten und vom Regen durchnässten Toastscheiben vom Boden auf. "Wir haben Hunger, wir haben seit drei Tagen nichts gegessen", erklärt einer.

Auf dem verwahrlosten Fabrikgelände der früheren Firma Krajina Metal hausen hunderte obdachlos gewordene Migranten – die meisten sind Pakistaner und Afghanen. Sie können nicht mehr in die Flüchtlingslager Bira in Bihać und Miral in der Stadt Velika Kladuša zurück, weil der Premier des Kantons Una-Sana, Mustafa Ružnić, beide Lager Ende September schließen ließ.

Gefährlicher Populismus

Tausende Migranten sind nun gerade zu Beginn des kalten Wetters obdachlos. Ružnić, ein bosniakischer Nationalist der Partei der Demokratischen Aktivität, will mit der Schließung der beiden Lager bei den Lokalwahlen am 15. November punkten. Protestierende Bürger fordern nämlich immer vehementer und häufiger, dass die Migranten aus der Stadt gebracht werden.

Tristesse in Bihać.
Foto: Adelheid Wölfl

Ein paar Migranten zeigen ihre Zutrittskarten, mit denen sie normalerweise nach Bira hineinkönnen, wo es zumindest Betten und Duschen und Essen gibt. Doch die lokale Polizei lässt nun niemanden mehr in das Aufnahmezentrum. Und so hausen diese Männer nun in den Abbruchhäusern von Krajina Metal. Es handelt sich um eine Brutstätte für Krankheiten, es gibt kein Wasser, keine Toiletten. Die Kleidung der Migranten ist oft komplett verschmutzt. Auf dem Boden liegt Müll.

Der Gestank ist unerträglich. Drinnen in den Fabriksräumen, deren Fenster längst kein Glas mehr haben, zeugen die Graffitis an der Wand von den Gedanken dieser Menschen, die aus politischer Willkür und Verantwortungslosigkeit in diese erbärmliche und gesundheitsgefährdende Lage gebracht wurden."Miss you Mom, love you", ist hier neben arabischer Schrift an die Wand gekritzelt und "Don’t waste your time."

Hoffen und warten

Doch das Leben der tausenden jungen Männer, die vermehrt nach dem Bau des Zauns in Ungarn 2016 von Serbien nach Bosnien-Herzegowina ausweichen, besteht fast zur Gänze aus Hoffnungen und Wartezeiten. Viele wollen nach Italien, um dort unterzutauchen, weil sie wissen, dass sie kaum Chancen haben, einen Asylstatus zu bekommen. Andere haben Verwandte in EU-Staaten und hoffen, sich durchzuschlagen zu können.

Viele haben keine Schuhe, nur Schlapfen. Die Schuhe wurden ihnen von der kroatischen Grenzpolizei weggenommen. Zum Schlafen legen sie sich Pappendeckel auf den Betonboden. "Wir wissen jetzt nicht, wo wir hingehen sollen, weil das Camp geschlossen wurde", sagt Avdullah S, ein 22-jähriger Afghane.

Manchmal käme die Polizei und bringe die Leute gegen ihren Willen in die Nähe des Camps Lipa. Doch das von der EU finanzierte Lager, etwa 30 Kilometer entfernt, ist mit 1500 Personen bereits randvoll, so wie zwei weitere Zentren für Familien und Kinder. Also landen die Migranten wieder in der Fabrikshalle oder campen in den Wäldern. Sie sind zum Spielball der bosnischen Innenpolitik in Wahlkampfzeiten geworden.

Schwacher Zentralstaat

Dem bosnischen Zentralstaat fällt es schwer, sich gegen Lokalfürsten wie Ružnić durchzusetzen. Gäbe es einen funktionierenden Rechtsstaat, so müsste die lokale Polizei den Anweisungen von Sicherheitsminister Selmo Cikotić folgen, denn in Migrationsfragen ist der Zentralstaat zuständig. Doch die lokale Polizei widersetzt sich rechtswidrigerweise der Order aus Sarajevo.

Wenn sich Cikotić nicht bald durchsetzt, droht eine Katastrophe. Denn der bosnische Winter ist kalt und hart. Wenn die Lager Bira und Miral nicht wieder geöffnet werden, ist das Leben von etwa 2.500 bis 3.000 Migranten gefährdet. Etwa jenes des 14-jährigen Hezbollah M. aus der Provinz Kunar aus Afghanistan, der nun im Regen friert. Eine Frau in einem Geschäft nebenan meint, dass man so nicht mit Menschen umgehen könne.

Die EU hat in Bosnien-Herzegowina etwa 70 Millionen Euro zur Bewältigung der Migrationskrise bezahlt. Die Grenzpolizei wurde zwar aufgestockt, doch die Grenze zu Serbien wird noch immer nicht effektiv kontrolliert, weil die Führung des Landesteils Republika Srpska weiß, dass die Migranten in den Landesteil Föderation weitergehen, und sogar politisches Kapital daraus schlägt, die Föderation zu belasten. (Adelheid Wölfl aus Bihać, 9.10.2020)

DER STANDARD