Die wissenschaftliche Evidenz zum Mund-Nasen-Schutz wird heftig diskutiert. Unseriöse Experten zitieren nur jene Studien, die ihre Theorien unterstreichen.

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Es ist eine Krise, in der nichts feststeht. Die Wissenschaft ändert ihre Meinung ebenso wie die Politik – oft um 180 Grad, all das haben wir in diesem Jahr schon erlebt. Kritiker der Corona-Maßnahmen missbrauchen wissenschaftliche Studien, haben aber gleichzeitig auch gute Argumente. Der Grat zwischen Corona-Leugnern und berechtigter Kritik war noch nie so schmal. Doch wie behält man den Überblick bei sich ständig ändernden Fakten und vielen unterschiedlichen Meinungen? Und wie lässt sich unterscheiden, wer seriös ist und wer nicht?

Auch die Wissenschaft steckt in der Bredouille, denn "wir sind immer noch in einer Situation, in der wir viel nicht wissen", sagt Gerald Gartlehner, Leiter des Instituts für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Uni Krems. Daher können manche Mediziner – wenn auch ohne Evidenz – behaupten, dass Maskentragen ungeborenen Kindern im Mutterleib schade oder Kinder traumatisiere, wie es vergangene Woche bei einer Pressekonferenz hieß, bei sich der die Veranstalter für eine Rücknahme der Corona-Maßnahmen ausgesprochen haben.

Oder, so Gartlehner weiter, der US-Präsident könne darüber spekulieren, ob nicht ein eigentlich hochgefährliches Mittel wie Chlorbleiche gegen Corona helfe. "Es gibt schlicht keine Studien, also lässt sich das alles auch nicht widerlegen", erklärt Gartlehner die Zwickmühle. Auch wenn die Wissenschaft an solche Situationen gewöhnt sei, die Bevölkerung ist es nicht. Sie möchte in Krisenzeiten klare Antworten.

Beste verfügbare Evidenz

Seriöse Kritiker könne man daran erkennen, dass sie Lösungsmöglichkeiten aufzeigen, die auch tatsächlich umsetzbar sind, meint der Kärntner Intensivmediziner Rudolf Likar. Und was einen guten Wissenschafter oder eine gute Wissenschafterin ausmache, ist laut Gartlehner, dass er oder sie sich auf die beste verfügbare Evidenz konzentriert und sich nicht etwa eine Studie herauspickt, die die eigenen Argumente untermauert. Zumal es bei einzelnen Studien – etwa aufgrund der geringen Zahl an Probanden – zu Zufallsergebnissen gekommen sein könnte.

Bei der schon erwähnten Pressekonferenz vergangene Woche wurde im Zusammenhang mit der Sinnhaftigkeit von Masken nur eine Studie erwähnt, wonach die Risikoreduktion durch Mund-Nasen-Schutz bei 20 Prozent liege – aber nur, wenn der Mund-Nasen-Schutz korrekt getragen und regelmäßig gewechselt wird, hieß es.

Tatsächlich gibt es mittlerweile eine Vielzahl von Studien zur Wirksamkeit von Mund-Nasen-Schutz. "Auch wenn ihre Qualität besser sein könnte und es sich dabei lediglich um Beobachtungsstudien handelt, zeigen alle relativ konsistent, dass Masken Infektionen verhindern können", sagt Gartlehner und ergänzt zudem: "20 Prozent mögen für den Einzelnen nach wenig klingen, aus Public-Health-Sicht kann das für eine ganze Population aber einen enormen Effekt haben."

Gute Argumente

Schwieriger wird es zudem, weil auch weniger seriöse Kritiker mitunter gute Argumente haben können, wie auch die Pressekonferenz in der Vorwoche gezeigt hat. Dort wurde etwa behauptet, dass die Pandemie vermehrt psychische Probleme und viele andere Kollateralschäden verursacht – darüber gibt es tatsächlich einen breiten Konsens. Auch würden die wenigsten Medizinerinnen und Mediziner bestreiten, dass die Kommunikation der Behörden besser verlaufen könnte oder dass in den letzten Monaten vielfach darauf vergessen wurde, die Erkrankung in Relation zu den Risiken des Lebens zu sehen. Fakt ist auch, dass es in einigen Ländern durch Covid-19 keine Übersterblichkeit gegeben hat.

Letztlich geht es darum, nicht gute und schlechte Kritiker zu unterscheiden, sondern einzelne Argumente zu beurteilen, weil es nur für sie letztlich Belege und Evidenz geben kann. Eine solche Versachlichung der Debatte würde auch helfen, Expertinnen und Experten nicht einfach in ein politisches Eck zu stellen. "Es geht derzeit extrem schnell, dass man als Experte instrumentalisiert wird. Das nimmt oft eine Eigendynamik an, die man nicht mehr kontrollieren kann", sagt auch Gartlehner. Schnell werden renommierte Expertinnen und Experten dann Quelle für Verschwörungstheorien, viele von ihnen haben zuletzt auch dem STANDARD von solchen Erfahrungen berichtet.

Gegenöffentlichkeit fehlt

Die Konsequenz: In den letzten Monaten haben sich immer mehr anerkannte Fachleute, die zuvor an der Vorgehensweise der Politik Kritik geübt hatten, aus der öffentlichen Diskussion zurückgezogen. Eine von ihnen ist die Sozialmedizinerin Claudia Wild. "Viele sind mutlos geworden und trauen sich nicht mehr, den Mund aufzumachen, sodass eine seriöse Gegenöffentlichkeit mittlerweile großteils fehlt", sagt sie und kritisiert, dass auch von den Medien konträre Meinungen zu wenig gehört werden und kritische Expertinnen und Experten viel zu schnell als Verschwörungstheoretiker abgestempelt werden. Obwohl das am Ende dem Diskurs nur schadet. "Es ist etwa möglich, dass ich mit einzelnen Argumenten der FPÖ übereinstimme, aber eben aus rein sachlichen Gründen", so Wild. (Bernadette Redl, 11.10.2020)