"Hey! Was ist die Zukunft?": Stefanie Sargnagel.

Foto: Apollonia Theresa Bitzan

Sarah und ich lernten uns eines Nachmittags kennen, da wir eine gemeinsame Feindin hatten, mit der wir beide unfreiwillig befreundet waren. Nicole war eine, im Nachhinein betrachtet, intrigante Soziopathin, die sich konsequent jedem aufdrängte, und zwar nicht aus Sehnsucht nach Freundschaft, was einen zumindest hätte rühren können, sondern weil sie Leute suchte, um sie zu unterdrücken und zu demütigen.

Wir waren zwar zu alt, um uns auf diese Machtspielchen einzulassen, die sie durchaus geschickt einige Jahre durchgezogen hatte, aber gleichzeitig war uns langweilig, und unterhaltsam konnte Nicole in ihrer durchtriebenen Bosheit schon sein. Außerdem hatte Nicole von ihrem Nachbarn aus der gehobenen Wiener Vorstadt ein Gramm Gras geschenkt bekommen.

Wir rauchten also Nicoles Zeug gemeinsam, dann musste sie schon los in ihre zweistöckige Vorstadtvilla mit Pferden und dem Golden Retriever. So blieben Sarah und ich im Park zurück und entdeckten sehr schnell etwas, das uns verband. Wir beide hielten Nicole eigentlich für einen fürchterlichen Menschen und ertrugen ihre Gesellschaft nur aus Mangel an Alternativen. Überhaupt war Sarah voller ausgeprägter Überzeugungen, über die wir angeregt diskutieren konnten.

Intellektuelle Freundschaft

Ab diesem Tag trafen wir uns jeden Nachmittag im Türkenschanzpark, rauchten gemeinsam einen Joint, redeten über die Ungerechtigkeit der Gesellschaft, zeichneten manchmal und überlegten, wie wir gemeinsam die Welt verbessern könnten. Es war von Anfang an eine eher intellektuelle Freundschaft, wir redeten kaum über Emozeug, wie man es bei einer Mädchenfreundschaft erwartet, da blieben wir distanziert.

Wenn wir ein paar Euro einstecken hatten, kauften wir uns auch mal einen Eristoff Ice in einem Lokal neben der Schule, in dem man auch unter 16 leicht an Alkohol kam. Es hieß "Abgrund", und genauso sah es dort aus, vollgestopft mit Snobs.

Alkohol tranken wir so gut wie nie, er schmeckte uns eigentlich nicht, also blieben wir bei typischen süßen Mischgetränken. Sarah hatte 20 Euro von ihrem Stiefvater zugesteckt bekommen, einem bekannten österreichischen Philosophen, und so gingen sich sogar drei Flaschen für jede aus. Wir hatten uns mal wieder in Rage diskutiert.

Wir würden abhauen nach Granada!

Unser Hauptfeind war nicht mehr Nicole, sondern das Schulsystem. Und wir wollten den ganzen Kapitalismus abschaffen, obwohl ich mir nicht sicher bin, dass wir dieses Wort damals überhaupt schon benutzten. Gemeinsam brüteten wir verschiedenste Szenarien aus, wie wir diesem Stumpfsinn entrinnen konnten.

Am Höhepunkt unseres Pathos wussten wir plötzlich, was zu tun war: Wir würden aussteigen aus dem Scheißsystem! Wir würden abhauen nach Granada! Freaks aus aller Welt hatten sich dort ihren Lebensmittelpunkt mit dem Nötigsten eingerichtet, das hatten wir irgendwo aufgeschnappt, und hier würde unsere widerständige Zukunft beginnen, davon waren wir in dem Moment zutiefst überzeugt.

Wir wussten beide, es ging hier nicht um morgen, nicht um ein Demnächst, sondern wir mussten es auf der Stelle tun: per Autostopp nach Granada fahren. Wir zahlten unsere Rechnung und brachen entschlossen auf.

Wie Pioniere

Zuerst gingen wir zu Sarah, in ihre Dachwohnung in Währing. Alle Lichter waren schon aus. Danach spazierten wir die 20 Minuten zu mir nach Hernals in die kleine Wohnung, in der ich mit meiner Mutter lebte. Im Gegensatz zu Währing war mein Wohnbezirk schon abgefuckter, auf dem Weg in die Geblergasse kamen wir an Peepshows, Bordellen und Spielhallen vorbei.

Auch hier schlichen wir leise in der dunklen Wohnung herum, um das Wichtigste zusammenzupacken: den Reisepass, ein bisschen Wäsche, einen Rucksack, das Zahnputzzeug, Tampons und eine Rolle Klopapier. Behutsam schlossen wir die Türe und machten uns auf den Weg.

Am sinnvollsten schien es uns, Richtung Westbahnhof zu gehen, da Spanien ja bekanntlich eher westlich von Wien liegt. Es war wenig Verkehr, am Gürtel standen ein paar Prostituierte, und mit unseren Rucksäcken spazierten wir durch die Gassen wie Pioniere auf dem Weg zur Welteroberung, zu Fuß und schnellen Schrittes, weil die Öffis nicht mehr fuhren.

Erste Zweifel

Bei der Josefstädter Straße legten wir eine kurze Pause ein, um uns im nächstgelegenen Gassipark mit einem Joint für die weitere Reise zu stärken. Der Park bestand aus einem Baum, einer Betonfläche und einer Bank, auf der im gelben Licht einer Laterne alleine ein besoffener Student mit unfrisierten, langen Haaren saß.

Als wir näher kamen, rief er uns zu: "Hey, ihr! Was ist Zukunft?" Wir musterten ihn und setzten uns dazu. Immer wieder wiederholte er euphorisch lallend seine Frage: "Was ist die Zukunft?" Sarah sagte voller Inbrunst: "Wir fahren heute Nacht noch nach Granada, wir hauen ab, das ist die Zukunft!"

Nachdem wir den Joint fertig gedreht hatten, teilten wir ihn mit dem Studenten und unterstützten ihn circa eine Stunde lang bei seinem Projekt, den wenigen Passanten wahllos die Frage zuzurufen: "Hey! Was ist Zukunft?" "Gusch!", rief ein Mann zu uns. "Sie is’ meine Zukunft!", sagte ein junger Typ, der seine Freundin beeindrucken wollte.

Mittlerweile war es drei Uhr nachts. Wir wurden immer bekiffter und müder und müder. Mit der Schläfrigkeit kamen uns erste Zweifel an unserem Reiseplan. Mussten wir wirklich unbedingt heute nach Granada? Während einer kurzen Besprechung wurde klar, dass die Moral beidseitig gesunken war und keine die andere mehr recht überzeugen konnte.

Wir entschieden uns, doch erst nächstes Jahr nach Granada auszuwandern, vielleicht weniger abrupt. Es wäre auch sehr rücksichtslos gegenüber unseren Müttern gewesen, heimlich in der Nacht für immer abzuhauen.

Das Café Stadtbahn als Herberge

In der Schule hatte ich mal wieder eine Strafe abzubüßen. Täglich sollte ich um 7.45 Uhr vorm Konferenzzimmer stehen, weil ich zu oft zu spät im Unterricht erschienen war. Verschlafen und mit kleinen Augen stand ich da und schaute mir das Ein- und Ausgehen im Konferenzzimmer an.

In diesen Momenten empfand ich sogar Mitleid mit den Unterrichtenden, für die ich ansonsten nur tiefe Verachtung empfand. Es roch stickig, wenn die Tür sich öffnete, nach einer Mischung aus Angstschweiß und alten Büchern. Die Möbel sahen aus wie aus den 70ern, und die Schreibtische waren überladen mit Heftstapeln. Es herrschte eine unangenehme Enge. Ich ekelte mich.

Die Strafe empfand ich als Demütigung: minutenlang vor diesem Raum zu stehen und darauf zu warten, dass sich eine dieser neurotischen Figuren in der Morgenhektik dazu herabließ, meinen Wisch zu unterschreiben als Bestätigung dafür, dass ich gehorsam war. Mein Hass wuchs, nicht auf die Menschen, sondern auf das System.

Dabei war mir doch alles wichtiger, als diese Leute zu ärgern: Zeichnen, Freunde, Abenteuer, Diskussionen. Dass ich mich täglich angestrengt dazu aufraffen musste, mich in diesen Hort der Sinnlosigkeit zu schleppen, und dass es mir physische Schmerzen bereitete, meine Zeit unter diesen biederen, tyrannischen Wapplern abzusitzen, rang den sogenannten Pädagogen nicht das geringste Verständnis ab. Sobald ich konnte, stürzte ich sofort in den Park, wo meiner Meinung nach das wahre Leben stattfand. Sarah wartete schon mit einem fertig gebauten Joint in der Hand auf mich, und wir phantasierten uns davon.

An diesen Nachmittagen lernte ich mehr als in einer Woche Unterricht, das war zumindest meine Ansicht. Wenn es kalt und dunkel wurde und wir unsere Finger nicht mehr spürten, bot uns das Café Stadtbahn, ein alternatives Refugium im stockbürgerlichen 18. Wiener Gemeindebezirk, eine Herberge.

Täglich um 19 Uhr sperrte es auf, und oft warteten wir schon 15 Minuten vorher ungeduldig vor der Türe, dass die Besitzerin den Schlüssel herumdrehte. Waltraut kannte uns schon sehr gut, sie begrüßte uns emotionslos, sie war sehr tolerant. Dort saßen wir dann bis zu fünf Stunden bei einem Glas Soda um einen Euro, und es störte sie nicht. Wenn wir selbstgebrannte CDs mit Hippie-Weltmusik mitbrachten, durften wir diese über ihre Anlage spielen, das rang ihr so etwas Ähnliches wie ein Lächeln ab.

Streng und gutmütig

Waltraut war um die 60, hatte kurze graue Haare, eine dicke Hornbrille und immer denselben schlabbrigen, abgefuckten Pullover an. Drunter trug sie keinen BH, ihre Brüste baumelten dynamisch beim Servieren herum. Ihre Ausstrahlung war streng, aber im Grunde war sie gutmütig. Sie rauchte eine filterlose A3-Zigarette nach der anderen, und angeblich schlief sie sogar im Lokal.

Das Café Stadtbahn war fast 100 Jahre alt, und Waltraut hatte es von ihrem Vater übernommen. Vor 30 Jahren war es angeblich wirklich mal ein Kaffeehaus für schachspielende Herren gewesen, doch inzwischen war es ein schummriges Beisl, eine heimelige Spelunke für Währinger Sonderlinge.

Die Decken waren über vier Meter hoch, und über jedem Tisch hing ein farbiges Lämpchen, das mit seinem warmen Licht jedes noch so fertige Gesicht aufweichte. Die Poster an den Wänden erzählten Geschichte der letzten Jahrzehnte, und der Rauch stand so dicht, dass unsere Augen nach zwei Stunden zu tränen anfingen. Das hörte aber meistens auf, wenn man selbst dagegen anrauchte.

Gegen 21 Uhr kam immer derselbe Obdachlose ins Lokal: der Willi, ein Typ mit einem rabenschwarzen Bart. Dem stellte Waltraut die Bierreste hin, die sie während des Abends in einem großen Glas für ihn gesammelt hatte. Es waren die übrig gelassenen, mit Speichel vermengten Reste der Gäste, die dickflüssig in einem Halbliterglas auf ihn warteten. Der Typ freute sich sichtlich, sein Körper gewann wieder Spannung, und er schüttete den schalen Schlatz in sich rein.

An den meisten Tagen geisterte auch Friedrich durchs Lokal. Er war Waltrauts Mann. Friedrich hatte lange, graue Haare, die flaumig wie Federn abstanden, sein Gesicht war hohlwangig und blass. Er bewegte sich langsam und fließend und wirkte fast durchsichtig, als könne er eins mit dem stehenden Zigarettenrauch werden.

Stefanie Sargnagel, "Dicht. Aufzeichnungen einer Tagediebin". 20,60 Euro / 256 Seiten. Rowohlt, 2020.
Cover: Rowohlt

So schwebte er fast unbemerkt wie ein Geist von Tisch zu Tisch und räumte schweigend die Aschenbecher ab. Wenn er die Gäste wirr anredete, befahl Waltraut ihm grantig, er solle die Leute in Ruhe lassen, und verwies ihn in sein Eck. In dem Eck stand er dann, als wäre er außer Betrieb, bis es wieder Aschenbecher zu leeren gab, auf die er wie ferngesteuert zuging.

Bei uns wusste sie allerdings schon, dass uns Friedrich nicht störte, wir unterhielten uns gerne mit ihm. Vor allem Sarah stellte ihm philosophische Fragen, zum Beispiel: "Was ist die Zukunft?" Angeblich hatte Friedrich Hepatitis C im Endstadium. Seine Aura war aufgeweicht von Opiaten. Er war wie eine wandelnde Schwade. (Stefanie Sargnagel, ALBUM, 11.10.2020)