Wien weist die höchsten Corona-Steigerungsraten auf. Doch hat die Bundeshauptstadt die Kontrolle über das pandemische Geschehen verloren? Nein, besagen Zahlen der Agentur für Ernährungssicherheit.

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Wien – Die Zahlen, die Mittwochmorgen aus dem Büro von Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) an Journalistinnen und Journalisten ergingen, hatten es in sich. Etwa jene über die "Aufklärungsquote der neu identifizierten Fälle" in Kalenderwoche 40 von 28. September bis vierten Oktober in Wien.

Wo sich die Betroffenen angesteckt hätten, habe man in der Bundeshauptstadt in diesem Zeitraum nur in 18,9 Prozent der Fälle rekonstruieren können, war einer Grafik zu entnehmen, die auch an den STANDARD ging.

Boulevard reagierte

In Wien sei die Verbreitung des Coronavirus außer Kontrolle geraten, suggerierte dies. Das Interesse des Boulevards war groß. "Contact-Tracing: Sorge um 'geklärte Fälle'", titelte etwa krone.at Mittwochmittag. "Besorgniserregend" sei, "dass in der vergangenen Woche laut Darstellung des Krisenstabes des Innenministeriums die Bundeshauptstadt bei der Aufklärung der Infektionsquellen (Contact-Tracing) hinterherhinken soll", hieß es weiter.

Das Problem dabei: Zu diesem Zeitpunkt existierte bereits eine offizielle statistische Auswertung des Infektionsgeschehens im genannten Zeitraum durch die damit beauftragte Agentur für Ernährungssicherheit (Ages) – mit einer ganz anderen Zahl. Der vom Sozialministerium betriebenen Webseite war – und ist – zu entnehmen: Der Anteil von "Fällen mit geklärter Quelle" in Wien betrug in Kalenderwoche 40 genau 61 Prozent.

Ages liefert wöchentliche Vergleiche

Besagte Ages-Statistik dient Experten und Politikern als Entscheidungsgrundlage. Sie basiert auf Daten aus dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS) und weist Sieben-Tages-Durchschnittswerte aus. Während tagesaktuelle Daten wegen verzögerter oder doppelter Einmeldung ins EMS verfälscht sein können, würden wöchentliche Vergleiche einen klaren Blick auf das tatsächliche Pandemiegeschehen bieten, heißt es aus der Ages.

Das gelte für die Aufklärungsraten ebenso wie für die Fallentwicklung insgesamt – zu der aus dem Innenministerium nach wie vor täglich um 9.30 Uhr Zahlen veröffentlicht werden.

Woher aber kam die vom Innenministerium kommunizierte, extrem niedrige Wiener Aufklärungsquote? "Es könnte sich um eine statistische Momentaufnahme der Situation an einem Morgen gehandelt haben", sagt ein Ages-Mitarbeiter. Angesichts täglich vieler neuer Fälle sei man in den Wiener Gesundheitsämtern am Vormittag noch am Eintragen der Clusterzuordnungen. (Irene Brickner, 9.10.2020)