Obdachlosen Geld zur Verfügung zu stellen sei völlige Verschwendung. "Die versaufen das ja sowieso." So oder so ähnlich lautet eine weitverbreitete Meinung. Dass es nicht zwingend so laufen muss, zeigt ein kürzlich vorgestelltes Projekt in Kanada. Denn die Wohltätigkeitsorganisation Foundations for Social Change aus Vancouver hat gemeinsam mit der University of British Columbia genau das gemacht: 50 ausgewählte Obdachlose in der Gegend rund um Vancouver bekamen 2018 einmalig 7.500 kanadische Dollar (ca. 4800 Euro). Einfach so.

Dann wurde verglichen, wie diese Gruppe das Geld in einem Jahr ausgab im Vergleich zu einer 65-köpfigen Kontrollgruppe, die nichts bekam. "Die Ergebnisse waren eine positive Überraschung", sagt die Geschäftsführerin Claire Williams der Organisation. Sie habe keine Erwartungen gehabt, aber große Hoffnungen, und diese seien bestätigt worden. New Leaf Project heißt die Aktion, wohl eine Anlehnung an das in Kanada omnipräsente Ahornblatt.

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Mit der Einmalzahlung aus dem New Leaf Project haben es Obdachlose im Schnitt in drei Monaten geschafft, eine Unterkunft zu finden.
Foto: AP/Jonathan Hayward

Was hat sich geändert? Jene mit Geld verbrachten weniger Tage auf der Straße als die anderen. Sie hätten im Schnitt in drei Monaten eine Unterkunft gefunden, fast 70 Prozent hatten innerhalb eines Monats regelmäßig zu essen. Im Schnitt gaben die Personen etwas mehr als die Hälfte für Miete und Essen aus, 16 Prozent für Kleidung und Transport und 15 Prozent für Medikamente und andere Rechnungen. Die Ausgaben für Alkohol, Drogen und Zigaretten sanken um 39 Prozent.

Einer der Teilnehmer war Ray. Seine ganze Identität wurde nicht veröffentlicht. "Ich habe in kurzer Zeit alles verloren. Die 7.500 Dollar waren ein Anstoß dazu, dass ich wieder auf die Füße komme", sagt er. Er habe einen Computerkurs besucht und wolle Suchtberater für andere Obdachlose werden.

Wer durfte mitmachen?

Der Foundations-for-Social-Change-Geschäftsführerin Williams zufolge wurden die Teilnehmer für das Programm genau analysiert: mindestens sechs Monate obdachlos, zwischen 19 und 64 Jahre alt, keine ernsthaften Drogenprobleme oder schweren psychische Erkrankungen. So lauteten die Bedingungen für das New Leaf Project. Überdies absolvierte jeweils ein Teil der Gruppe ohne Zahlung und der mit Zahlung Workshops und wurde über das Jahr individuell betreut.

Foundations for Social Change

Der Idee kann auch die österreichische Wifo-Expertin Christine Mayrhuber einiges abgewinnen: "Solche Experimente sind immens wichtig, um die Wirkung von Hilfsmaßnahmen zu erforschen. Geld bzw. Coaching allein wird nicht reichen, vielen Obdachlosen fehlt der Zugang zu Informationen. Die Mischung macht es aus." So etwas könne bestimmt auch in Österreich funktionieren, meint sie.

Was lässt sich mit der Summe überhaupt anfangen? 7.500 kanadische Dollar entsprechen in etwa zwei Bruttomonatsgehältern. Eine Einzimmerwohnung im Raum Vancouver beläuft sich in etwa 1380 Dollar pro Monat. Rein theoretisch gingen sich damit also fast fünf Monatsmieten aus. Aber: Einerseits fallen viele andere Ausgaben an, und andererseits ist es als Obdachloser nicht so einfach, eine Wohnung zu bekommen. Nichtsdestotrotz haben es einige der Teilnehmer sogar geschafft, in dem Jahr mehr als 1000 Dollar anzusparen.

Ersparnis für alle

Die Studie zeigt, dass sich diese Einmalzahlung nicht nur positiv auf das Leben der Obdachlosen auswirkt, sondern auf die gesamte Gesellschaft, weil die Ausgaben der öffentlichen Hand zurückgingen. Im Schnitt liegen die Sozialhilfe-Ausgaben für Obdachlose in Kanada bei 55.000 Dollar (35.400 Euro) pro Person. "Unsere Direktzahlung hat den Obdachlosenunterkünften rund 8100 Dollar pro Person gespart. 405.000 Dollar für alle 50 Menschen", sagt Williams.

Der Armutsexperte Martin Schenk von der Diakonie erkennt eine Parallele zu "Housing First"-Modellen in Österreich. In diesem Modell wird Obdachlosen eine Wohnung zur Verfügung gestellt, ohne stufenweise verschiedene Wohnformen wie Notschlafstellen und betreutes Wohnen zu durchlaufen. "Nach dem Prinzip ‚Schwimmen kann man auch nur im Wasser‘", meint Schenk. Ihm zufolge erzielen diese Projekte gute Erfolge mit ihren Klienten. Hier orientiere man sich in der Praxis ebenfalls – wie in Kanada – an Personen, die das Potenzial haben, allein wohnen zu können.

Sowohl Wifo-Expertin Mayrhuber als auch Schenk sind sich überdies einig, dass solche Experimente auch in Österreich Sinn ergeben. Vor allem in Anbetracht der Corona-Krise und der tendenziell steigenden Armut. (Andreas, Danzer, 11.10.2020)