"Passen Sie auf, hier sind scharfe Kanten", sagt Thilo Cablitz und leuchtet mit der Taschenlampe auf eine aufgebrochene Stahltür im Treppenhaus der Liebigstraße 34. Verdreht liegt sie auf einem Schutthaufen, über den der Pressesprecher der Berliner Polizei steigt.

Es ist dunkel und riecht muffig. Ein kühler Hauch weht durch die zerbrochenen Fensterscheiben, als es in die oberen Stockwerke geht. Auch hier herrscht Chaos. Nudeln am Boden, Unrat auf den Matratzen, die Wände sind mit Parolen beschmiert. "Hoch leben die rechthabenden und allwissenden Revolutionärinnen" und "Welcome to Hell 34" ist zu lesen.

Zur Räumung rückten 1.500 Polizisten aus acht deutschen Bundesländern an.
Foto: APA / AFP/ Tobias Schwarz

Für all dies interessierten sich die Einsatzkräfte nicht, als sie am Freitag in den frühen Morgenstunden mit der Räumung des Hauses begannen. Sie hatten Falltüren, Sperren aus Stacheldraht und zugemauerte Treppenaufgänge im Blick. Denn die rund 40 letzten Bewohnerinnen und Bewohner des zurzeit berühmtesten Hauses der deutschen Hauptstadt, gelegen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, wollten nicht freiwillig gehen und hatten sich wie in einem Bunker verschanzt.

"Wohnrecht ist Menschenrecht"

"Widerstand! Widerstand!" skandieren zahlreiche Demonstranten, als der Gerichtsvollzieher am Freitagmorgen in Begleitung der Polizei eintrifft. Allen Anwesenden ist klar: Das Haus wird ihm nicht ordnungsgemäß übergeben. "Wir müssen uns dem Kapitalismus entgegenstellen, Wohnrecht ist Menschenrecht", sagt eine junge Frau, die aus Protest in der angrenzenden Rigaer Straße mit einem Löffel gegen einen Kochtopf drischt. Viele tun es ihr gleich, sie alle wollen, dass "Liebig 34 bleibt", wie es auf einem riesigen Transparent heißt.

Solidarität mit Liebig 34 in der Nachbarschaft.
Foto: Birgit Baumann

Das Haus, früher in Ostberlin, heute in allerbester Innenstadtlage, hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Nach dem Mauerfall wurde es besetzt, doch bald bekamen die Bewohnerinnen und Bewohner legale Mietverträge. 2008 erwarb es der Berliner Immobilienunternehmer Gijora Padovicz, dem rund 200 Objekte in Berlin gehören. Zehn Jahre lang konnten "Liebig 34er" noch bleiben, doch am 31. Dezember 2018 liefen die Verträge aus. Als der Eigentümer auf Räumung klagte, wurde schnell deutlich, dass die Bewohnerinnen und Bewohner nicht kampflos aufgeben würden. 40 Frauen, trans- und intersexuelle Menschen lebten zuletzt in dem "anarcha-queerfeministischen Hausprojekt" (Eigenbezeichnung), das sich über 1.237 Quadratmeter Wohnfläche erstreckt.

40 Personen lebten zuletzt in dem "anarcha-queerfeministischen Hausprojekt", wie die Bewohnerinnen und Bewohner es selbst nannten.
Foto: Birgit Baumann

In Berlin gibt es zwei Blicke auf das Haus. Für die einen ist es ein linkes Prestigeprojekt, ein Raum für alternative Lebensformen, eines jener Häuser, die die deutsche Hauptstadt so bunt und besonders machen. Und ein Symbol im Kampf um den auch in Berlin immer knapperen günstigen Wohnraum, der zugunsten von Luxuswohnungen weichen muss. Andere hingegen sehen darin ein Zentrum für Rechtsbruch und Krawalle. Als "Rückzugsort für Linksradikale aus ganz Europa" stuft es die Berliner Polizei ein. Dementsprechend groß war das Polizeiaufgebot bei der Räumung. Es rückten 1.500 Polizisten aus acht deutschen Bundesländern an, zumal es in linksextremen Kreisen zuvor schon geheißen hatte, man werde sich eine Schlacht mit der Polizei liefern.

Kein nennenswerter Widerstand

Doch die angekündigte Revolution fand – zumindest am Freitag – noch nicht statt. Viele der Hausbesetzer verlassen das Gebäude dann doch freiwillig, andere werden hinausgetragen und dort mit donnerndem Applaus empfangen. "Es gab keinen nennenswerten Widerstand", sagt Polizeisprecher Cablitz. Allerdings hatten die Einsatzkräfte einige Stunden mit Kettensägen und Trennschleifern zu tun, bis alle Hindernisse im "queer-feministischen Labyrinth", wie es die Bewohnerinnen nannten, beseitigt waren.

Viele der Hausbesetzer verließen das Gebäude freiwillig.
Foto: Odd ANDERSEN / AFP / APA

Am frühen Nachmittag wurde das Objekt dann dem Eigentümer übergeben, der sofort einen privaten Räumungstrupp hineinschickte, um den Sperrmüll zu entsorgen. "Ihr Handlanger des Kapitalismus", schallte diesem vom Balkon eines Nachbarhauses entgegen.

Zwei Stunden nach der Räumung kam die private Räumungsfirma an, um Sperrmüll zu entsorgen.
Foto: Birgit Baumann

Zufrieden mit der Räumung zeigte sich Friedrich Merz (CDU), der einen "Dank an die Polizei" twitterte. "Endlich" sei das Haus geräumt. Auch Jan-Marco Luczak (CDU), Sprecher der Unions-Fraktion für Recht und Verbraucherschutz im Bundestag, twitterte, das Eingreifen der Polizei sei überfällig gewesen: "Linke Gewalttäter haben das Haus viel zu lange besetzt und Anwohner terrorisiert, beschützt vom grünen Stadtrat."

Umstrittener Zeitpunkt

Hingegen kritisiert die Linke-Bundestagsabgeordnete, die in Friedrichshain-Kreuzberg ihr Direktmandat hat, den Zeitpunkt der Räumung: "Berlin wird zum Risikogebiet erklärt, und tausende Polizisten aus dem ganzen Bundesgebiet räumen ein Haus. Geht's noch?"

Gelaufen ist die Sache für die Polizei noch nicht. In den kommenden Tagen soll es immer wieder zu Demonstrationen gegen die Räumung kommen, zudem heißt es in linken Kreisen: "Wir holen und die Liebig 34 zurück." Warum es am Tag der Räumung überraschend ruhig blieb, erklärt man sich in Polizeikreisen so: "Die wollten sich für die Auseinandersetzungen, die noch zu erwarten sind, bereithalten und nicht schon am ersten Tag verhaften lassen." (Birgit Baumann aus Berlin, 9.10.2020)