Dieser Lulatsch (Marcel Heuperman, Mi.) heißt Hitler und ist brandgefährlich: der weise Jude Herzl (Markus Hering) und das Mädchen Gretchen (Hanna Hilsdorf) beim Zähmungsversuch.

Foto: Burgtheater/Marcella Ruiz Cruz

Das Männerasyl, in dem der bescheidene, kleine jüdische Hausierer Schlomo Herzl (Markus Hering) unbeirrt am Buch der Welt schreibt, gehört vielleicht zu den minder großen Schöpfungsleistungen. Der Urheber dieser historisch verbürgten Verwahranstalt in der Meldemannstraße ist die vor Ort am meisten gottähnliche Instanz: der Wiener Kommunalwohnbau. Schauplatz dieser Rekonstruktion ist die Wiener Burg, wo man, 33 Jahre nach der Uraufführung, wiederum "Mein Kampf" gibt: das Nachspiel auf der Komödienbühne, wohlgemerkt, nicht die inferiore Hassschrift Adolf Hitlers.

Der einzige wahre Schöpfer hält sich vor den Menschen versteckt. Und ist dennoch gerade rechtzeitig in die massige Gestalt eines Kochs geschlüpft. Lobkowitz (Oliver Nägele) fällt im Wiener Burgtheater wie ein gestrandeter Walfisch buchstäblich mit der Tür, einer Parkettbodenleiste, ins Haus (Bühne: Jessica Rockstroh). Er ist der profund orgelnde, mit Mehlstaub um sich werfende Gottvater-Ersatz: ein "kaputter Koscher-Koch", der einen Tafelspitz nicht von einem Schmelzkäse unterscheiden kann.

Die Welt, wie sie in George Taboris unsterblicher Farce "Mein Kampf" entstellt wiederkehrt, kann im Wiener Burgtheater natürlich niemand retten. Schlomo nicht, der bald darauf ein ungeschlachtes Riesenbaby namens "Hitler" (Marcel Heuperman) in seine ersatzmütterlichen Arme schließen wird. Der Zeugnis ablegen möchte von der verheerenden Einrichtung der Verhältnisse. In der man Juden erschlägt, ihre Frauen absticht. In der die "Schüttlers" aus Odessa oder aus den Karpaten nach Bayern auswandern, wo sie nacheinander alle Buchstaben verlieren oder diese so lange verdreht bekommen, bis sie "Hitler" heißen.

Mentekel an der Wand

Mit Kreide schreibt Schlomo sein Menetekel an die Asylwand: "Hitler". Tabori (1914-2007), der talmudische Weise mit den besten Witzen und den tiefsten Zoten, schlägt in seinem vor Untröstlichkeit berstenden Stück eine Art profunder Wiedergutmachung vor. Stell‘ dir vor, man wäre Hitler, dem ungepflegten, Unsinn raspelnden Provinzpinsler mit dem Minderwertigkeitskomplex, rechtzeitig genug mit fürsorglicher Nachsicht begegnet. Mit Gott kann man nicht rechten. Vielleicht aber kann mit seinen unmöglichsten Geschöpfen wenigstens nachträglich paktieren.

Die Sache geht, weil sie von vornherein verloren zu geben ist, komplett schief. Der Braunauer Lulatsch kracht ins Haus. Er bekommt die Rotzbremse gestutzt, den Kopf gebürstet. Der Kraftschauspieler Heuperman tobt mit rutschenden Hosen durch diesen metaphysischen Unterstand: den Strumpf im Kaffee. Die Aquarelle des Problemkindes geben in etwa den Farbinhalt seiner Unterhosen wieder.

Heuperman ist ein kotzendes, den gröbsten Unsinn herausposaunendes Ereignis: halb Oger, halb Oliver Hardy. Schlomo, der Dichter mit den leeren Seiten, agiert als sein barmherziger Samariter, dessen Lebenslicht hinter trüben Brillengläsern auf Sparflamme funzelt. Merkwürdig nur, dass Itay Tiranis brave Tabori-Inszenierung, je länger sie dauert, desto weniger vom Fleck kommt.

Schlomo nämlich hat im Männerheim einmal die Woche Damenbesuch: Gretchen Globuschek (Hanna Hilsdorf), die in sich die Lockungen der Kindfrau mit derjenigen der Schlange aus dem Paradies in sich vereint. Hitler wird für die Dauer des (keuschen) Schäferstündchens in die Wiener Touristenzonen umgeleitet. In der Burg trägt Hilsdorf hautfarbene Wäsche: Der Duft der Prüderie weht durch das Staatstheater.

Eine Art Walpurgisnacht

Auch das Finale, eine Art Walpurgisnacht des vorweggenommenen Schreckens, krankt dezidiert an ästhetischer Unentschlossenheit. Während das auftretende (echte) Huhn – es heißt laut Programmheft "Birne" – einen freundlichen, wenngleich stark sedierten Eindruck macht, muss die Erscheinung von "Frau Tod" (Sylvie Rohrer), androgyn, mit verspiegelten Augen, unter die weniger eindrucksvollen Schrecken gezählt werden.

Hitlers Wiederkehr im SA-Gewand mit einem Mordbuben als Spießgesellen (Rainer Galke) führt zu Schlomos Kreuzigung – dessen Buch ("Mein Kampf") ist naturgemäß nicht fertiggestellt, sein Kopf gibt über den Massenmörder in spe nichts Verwertbares preis. Herzls Fazit klingt weniger ernüchternd als ganz einfach selbstkritisch: "Ich war zu dumm zu wissen, dass manche Menschen Liebe nicht ertragen können."

Lobkowitz stand derweil die ganze Zeit über im Eck. "Wo bist du gewesen", fragt Herzl ihn nach überstandenem Inferno. Er sei ohnehin hier gewesen, lautet die Antwort. Es folgt ein besonders kruder Witz. So wichtig es ist, George Taboris Werk wiederaufgeführt zu wissen: Es ließen sich eine wildere, anarchischere Abrechnung mit der Schöpfung denken.

Verdienter Applaus für das feine Ensemble. Das Huhn "Birne" hat sich nicht verneigt. (Ronald Pohl, 10.10.2020)