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Nicht unbedingt beim AKW von Electrabel nahe Antwerpen, aber an vielen anderen Standorten wurden Sicherheitschecks zuletzt deutlich reduziert oder ganz gestrichen.

Foto: reuters/lenoir

Stromgewinnung durch Kernspaltung ist schon in normalen Zeiten riskant und hat schwer kalkulierbare Auswirkungen im Fall einer Havarie. In Corona-Zeiten gewinnt dies noch mehr an Brisanz. Denn wie andere Branchen ist auch die Atomindustrie von dem neuartigen Virus, das die Welt seit Frühjahr in Atem hält, stark betroffen.

Tausende infizierte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, 4.600 allein beim russischen Konzern Rosatom; dazu ein Mangel an hochqualifiziertem Personal vor Ort aufgrund von Vorbeugemaßnahmen zur Reduzierung der Ansteckungsgefahr. Der französische Stromkonzern EdF hat beispielsweise rund drei Viertel der in der Nuklearabteilung Beschäftigten ins Homeoffice geschickt.

Betriebskosten rasant gestiegen

Zwischenzeitlich sind auch noch die Betriebskosten der Atomkraftwerke rasant gestiegen – bei gleichzeitig rückläufigem Stromverbrauch, was wiederum mit dem Zurückfahren der Wirtschaft zu tun hat. Die weitreichendste Folge aber war, dass viele Betreiber zuletzt die Sicherheitschecks reduziert haben oder ganz ausfallen ließen.

Diese Hinweise finden sich in dem 361 Seiten umfassenden Zustandsbericht der Weltnuklearindustrie 2020, der dem STANDARD vorliegt. Der World Nuclear Industry Status Report ist 2007 erstmals veröffentlicht worden. Seither gibt der Report Jahr für Jahr Auskunft, was sich in der Nuklearindustrie abspielt.

Herausforderungen durch Covid-19

Aus gegebenem Anlass ist heuer ein Kapitel den Herausforderungen der Branche angesichts Covid-19 gewidmet. An der Erstellung des Berichts haben sich sieben interdisziplinäre Experten und Expertinnen aus Kanada, Frankreich, Deutschland, Japan, Libanon, USA und Großbritannien beteiligt, teilweise aus Top-Denkfabriken wie dem Chatham House (London) sowie Prestige-Universitäten wie Harvard (Cambridge), Meiji (Tokio) oder der Technischen Universität Berlin.

"Der Bericht hat gezeigt, wie schnell Betreiber Sicherheitsvorkehrungen lockern, die auch während einer globalen Krise die Sicherheit von AKWs garantieren sollen. Das Letzte, was die Welt gerade braucht, ist eine Nuklearkatastrophe," sagt der Anti-Atom-Sprecher der Grünen, Martin Litschauer. Betreiber müssten das Thema Sicherheit endlich ernst nehmen. Es könne nicht sein, dass wirtschaftliche Interessen bei einer derart gefährlichen Technologie Vorrang haben.

Prinzip "nuclear safety first" ausgehebelt

Normalerweise finden Tests in AKWs im Intervall von mehreren Wochen statt, etwa an Notfall-Stromaggregaten, in Kontrollräumen, auch bei Notkühlsystemen. Obwohl Betreiber gesetzlich verpflichtet sind, sich penibel an die vorgegebenen Intervalle zu halten, sei das Prinzip "nuclear safety first" während der Pandemie oft ausgehebelt worden. Die Testintervalle zu verlängern bedeute aber, ein erhöhtes Fehlerrisiko in Notfallsituationen bis hin zum Ausfall von Notfallsystemen in Kauf zu nehmen.

Aktuell sind in weltweit 31 Ländern 408 Atomkraftwerke in Betrieb. Das sind zehn AKWs weniger als 1989 und 30 weniger als 2002, dem Jahr, als mit 438 Meilern die bisher größte Zahl an AKWs am Netz war. Die Erzeugungskapazität hat sich zwischenzeitlich kaum verändert – Folge einer Tendenz zu weniger, dafür größeren und leistungsstärkeren Reaktoren. Der Anteil der Nuklearenergie an der weltweiten Stromerzeugung lag 2019 bei 10,4 Prozent. Den Höhepunkt gab es 1996 mit 17,5 Prozent.

Erhebliche Bauverzögerungen

Bei 33 der 52 in Bau befindlichen AKWs sind zum Teil bereits erhebliche Bauverzögerungen eingetreten; die durchschnittliche Zeit seit Baubeginn dieser Reaktoren beträgt 7,3 Jahre. Bei zwei der 52 Reaktoren, Mochovce III und IV in der Slowakei, wurde bereits vor 35 Jahren mit dem Bau begonnen; an einem Reaktor (Bushehr 2 in Iran) wird seit über 44 Jahren gebaut. 16 der 52 Bauprojekte sind in China angesiedelt, sieben in Indien, gefolgt von je vier in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Südkorea. (Günther Strobl, 12.10.2020)