Kaum jemand außer Mikaela Shiffrin selbst hat bezweifelt, dass sie wieder anschnallen wird. Den Ski-Weltcup-Auftakt kommendes Wochenende in Sölden lässt sie aber noch sausen. Der US-Amerikanerin sei geraten worden, wegen kürzlich im Training aufgetauchter Rückenprobleme den Riesentorlauf auszulassen, wie die 25-Jährige am Samstag auf Instagram bekanntgab. Sie sei deshalb "wirklich frustriert", werde aber "bald wieder am Start stehen".
Schwer gebeutelt
Shiffrin hat schwierige und emotional fordernde Monate hinter sich. Nach dem Tod ihrer Großmutter im November 2019 machte ihr der plötzliche Tod ihres Vaters Jeff (65) im Februar 2020 schwer zu schaffen. Sie zog sich aus dem Weltcup zurück, dachte auch an Rücktritt. "Ich fragte mich, ob ich zurückkehren sollte, ob es das wert ist, so viel von zu Hause weg zu sein", berichtet die zweifache Olympiasiegerin im Rahmen eines virtuellen Medientreffens ihres Ausrüsters Atomic.
Seit rund zehn Jahren ist Shiffrin mit dem Skizirkus unterwegs, viel Zeit zum Daheimsein bleibt da nicht. Das ist die Krux an einer Skikarriere. "Der Sport, den ich so gerne ausübe, bringt mich weg von den Menschen, die ich liebe", sagt sie.
Shiffrin kann zumindest auf ihre Mutter Eileen zählen, die sie meist zu den Rennen begleitet. Andernfalls würde sie "garantiert nicht nach Europa kommen, auch wenn mein Vater wünschen würde, dass ich starte", sagt sie. Mit solchen Überlegungen habe sie zu kämpfen. Sie müsse sich aber "an das unangenehme Gefühl gewöhnen", das sei Teil des Prozesses. "Meine Mutter und ich müssen da durch." Dass heuer die Amerika-Tournee Corona-bedingt abgesagt wurde, mache sie traurig, weil es der aufregendste Teil der Saison für sie sei. Die Pandemie hat Amerika mit bald acht Millionen Infizierten und mehr als 214.000 Todesfällen schwer erschüttert und auch Shiffrins Gemütslage zusätzlich zugesetzt. Obendrein verhinderte das Virus ihre für März in Åre geplante Rückkehr in den Weltcup und raubte ihr die Chance auf den Gewinn des vierten Gesamtweltcups en suite.
Shiffrin verbrachte nahezu den gesamten Sommer in quarantäneartigem Zustand zu Hause. Dass viele Menschen nicht genug Abstand halten oder es mit dem Maskentragen nicht so genau nehmen, regt sie auf. Auf CNN sagte sie: "Wacht auf! Es passiert und geht nicht weg, wenn man es ignoriert. Nehmt es ernst. Ohne Maske bei einer Veranstaltung zu sein ist keine gute Idee."
Leicht verunsichert
Skifahren war für Shiffrin in den vergangenen Monaten kaum drin. Ein paar nicht ideale Tage im Frühling, ein paar mittelprächtige im Sommer. Das war’s. Eine komplett suboptimale Vorbereitung, abgesehen vom Konditionstraining im improvisierten Fitnessstudio in den eigenen vier Wänden. "Der Sommer war wirklich sehr herausfordernd, sozial schwierig und die Anspannung sehr groß", sagt sie. Shiffrin musste sich auch mit organisatorischen und finanziellen Angelegenheiten herumschlagen. Dinge, die früher ihr Vater erledigte. Da ihr zudem auch vieles, was in der Welt passiert, Sorgen bereite, sei sie aktuell mehr denn je gefordert, den Fokus nicht zu verlieren und positiv zu denken.
Die fünffache Weltmeisterin und Siegerin von 66 Weltcuprennen hat noch nie in ihrer Karriere so lange pausiert. "Das ist ein wirklich komisches Gefühl", sagt sie. "Es ist, wie wenn du eine Verletzung hast, die du aber nicht sehen kannst." Es könne daher dauern, bis sie die Balance und den richtigen Rhythmus findet, wieder auf dasselbe Level wie früher kommt und mental bereit ist, so viel zu investieren, um so schnell wie möglich zu sein. Die Ziele bleiben jedenfalls dieselben: "Rennen gewinnen."
Ob sie nahtlos an ihre Glanztaten der vergangenen Jahre anschließen können wird, wird sich weisen. Sie selbst sagt dazu: "Da bin ich mir nicht sicher." Immerhin fühlt sie sich wie frisch geboren. Nach Europa zu kommen fühle sich vertraut an. Sie bereite sich jedenfalls auf eine gänzlich andere Saison vor, in der man flexibler und geduldiger als unter normalen Umständen sein müsse. "So viele Variablen können sich ändern. Wir müssen unser Mindset anpassen", sagt sie.
Jeff Shiffrin Athlete Resiliency Fund
An die turbulenten Zeiten adaptiert hat sich indes die Lage der US-Skifahrt. Sie ist prekärer geworden. Um durch die Pandemie verursachte finanzielle Einbußen abfedern zu können und um ihres Vaters zu gedenken, wurde der Jeff Shiffrin Athlete Resiliency Fund zur Unterstützung von Athleten ins Leben gerufen. Die unglaubliche Resonanz auf das Projekt mache sie sehr stolz. "Ich hoffe, es kann vielen Leuten helfen und inspiriert sie auch." (Thomas Hirner, 12.10.2020)