Wien hat gewählt, was in der Wiener Natur liegt: dass sich bitte schön nichts ändern möge. Dass der Status quo möglichst erhalten bleibe. Mitten in einer existenziellen Krise ist das auch keineswegs verwunderlich. Jetzt stehen für viele Menschen Jobsicherheit und ein verlässliches soziales Netz im Vordergrund. Michael Ludwig konnte diese Sicherheit im Wahlkampf vermitteln. Ihm gehört nicht nur der Wahlsieg, die SPÖ erneut zur stimmenstärksten Partei geführt zu haben. Nach Ansicht der Wahlforscher am frühen Wahlabend wird er zudem die 39,6 Prozent von Michael Häupl aus dem Jahr 2015 toppen. Das Ergebnis des Vorgängers zu übertreffen heißt für Ludwig nicht nur Sieg; es heißt Triumph.

Michael Ludwig hat die SPÖ erneut zum Wahlsieg geführt.
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Und das unter erschwerten Bedingungen, denn Corona-bedingt gab es keinen Tür-zu-Tür-Wahlkampf und keine Massenkundgebungen. Vielleicht war das zum Vorteil des Bürgermeisters, der so jene Ruhe und Besonnenheit ausstrahlen konnte, die ihm näher sind als die Rolle des Einpeitschers. Die Misere um das Krankenhaus Nord scheint vergessen, genauso wie das anfängliche Chaos bei den Corona-Tests in Wien. Überhaupt gelang es der SPÖ im Wahlkampf, jegliche Kritik an ihrer Regierungspolitik in ein "Wien-Bashing" umzumünzen, also in ein ungebührliches Draufhauen auf die lebenswerteste Stadt der Welt. Kritik an der SPÖ galt schnell als Beleidigung von "unserem schönen Wien".

Vor Ludwig steht nun die Aufgabe, Wien durch eine der schwersten Krisen zu führen. Er ist unter anderem mit dem Versprechen angetreten, "um jeden Job zu kämpfen". Genau dafür wurde er gewählt, wie die Befragung zu den Wahlmotiven zeigt. Und dafür wird er einen verlässlichen Partner brauchen. Die türkise Blümel-ÖVP ist wohl nicht der Favorit von Ludwig, zu groß sind hier die Differenzen auf vielen Ebenen. Doch mit dem schwarzen Teil der Wiener ÖVP hat Ludwig eine gute Beziehung. Auszuschließen ist eine große Koalition, zumal in der Krise, daher nicht.

Erkaltete Zuneigung

Dass Ludwig wieder mit den Grünen koaliert, ist wahrscheinlicher, aber auch nicht zwingend. Seit Birgit Hebein Ludwig mit ihrem Vorstoß zur autofreien Innenstadt überrascht hat, gab es unübersehbare Signale, dass die Zuneigung zu den Grünen erkaltet ist. Ludwig hat ein Elefantengedächtnis, das vergisst er den Grünen nicht. Doch auch die Grünen spüren, dass ihnen im Bund die Koalitionsräson schadet, konkret die Duldung des ÖVP-Kurses bei Moria. Regieren um jeden Preis werden die Grünen in der Stadt nicht. Die Verhandlungen versprechen schwierig zu werden.

Wie es aussieht, geht sich eine Koalition SPÖ und Neos aus. Ludwig wird also auch das Gespräch mit Christoph Wiederkehr suchen – und sei es nur aus taktischen Überlegungen, um den Preis im Koalitionspoker nach oben zu treiben. Für die Neos wäre die erste Regierungsbeteiligung ein großer Erfolg. Ein liberaler Partner an der Seite der SPÖ wäre etwas Neues, Rosa-Rot in Wien und Türkis-Grün im Bund hätten unterschiedliche Antworten auf die Krise parat.

Ludwig ist mit dieser Wahl nun offiziell der mächtigste Politiker in der SPÖ. Nachdem Ludwig eine Stadtregierung geformt hat, wird er sich wohl der Bundes-SPÖ zuwenden. Mit Stadtrat Peter Hacker hat Ludwig einen Vertrauten, der schon jetzt der lauteste Oppositionspolitiker gegen die Bundesregierung ist. In Wien mag sich nach der Wahl nicht allzu viel ändern; auf bundespolitischer Ebene lässt sich das nicht ausschließen. (Martin Kotynek, 11.10.2020)