Es sei schon erstaunlich, wie wahlentscheidend die Errichtung von temporären Radwegen sein kann, sagt Grünen-Wählerin Sophia zu ihrer Freundin Claudia, als sie gemeinsam mit ihren kleinen Kindern die Prater-Hauptallee entlang spazieren. Gerade hatte Claudia erklärt, dass sie dieses Mal die SPÖ gewählt habe, weil sie von Verkehrsprojekten wie den Pop-up-Radwegen dermaßen genervt war, dass sich die Grünen ihrer Ansicht nach einen Denkzettel verdient hätten. Denn bevor man derartige Projekte umsetze, solle man vorher die Bürger nach ihrer Meinung befragen, meint Claudia, die früher selbst einmal Grün gewählt hat, wie sie erzählt.

Egal wen man bei einem Streifzug durch die Leopoldstadt nach der Wahl fragt: früher oder später kommen die Bewohner auf das Thema Verkehr und seiner Beruhigung zu sprechen, zumeist geht es um die Pop-up-Radwege auf der Prater- und Lasallestraße. Entweder es herrscht Ablehnung oder Unterstützung; kaum einer hat keine Meinung dazu. Dessen ist sich auch Alexander Nikolai (SPÖ) bewusst, der dem Bezirk künftig vorstehen wird. Die SPÖ erreichte 35,4 Prozent, die Grünen 30,6 Prozent. Nikolai wird also das vierjährige grüne Intermezzo beenden und Bezirksvorsteherin Uschi Lichtenegger (Grüne) in ihrer Funktion ablösen.

Der Prater, beheimatet im zweiten Bezirk, gilt als grüne Lunge Wiens.
Foto: Cremer

Machtwechsel nach Wahlwiederholung

"Ich halte nichts von temporären Lösungen", sagt Nikolai zur Diskussion rund um Radwege im STANDARD-Gespräch. Er sei sich zwar dessen bewusst, dass man hie und da Parkplätze reduzieren müsse, aber "nicht auf die brachiale Tour". Nikolai, gelernter Koch und langgedienter Gewerkschafter, war bisher Bezirksgeschäftsführer der SPÖ Leopoldstadt.

Damit, dass die SPÖ bei der letzten Wahl den Bezirksvorsteher einbüßt, rechnete niemand. Der Machtwechsel von Rot auf Grün kam durch eine Wahlwiederholung zustande: denn zuerst wurde die SPÖ mit 38,6 Prozent der Stimmen eindeutig zur Nummer eins gewählt, die Grünen erreichten mit 22,2 Prozent und 21 Stimmen Vorsprung vor der FPÖ Platz zwei. Doch die Wahl wurde wegen Ungereimtheiten bei der Auszählung angefochten, und die SPÖ-Wähler blieben beim zweiten Urnengang zu Hause: Während die Grünen 35,3 Prozent erreichten, musste sich die SPÖ mit 28,1 Prozent begnügen. Das Verhältnis zwischen SPÖ und Grünen im Bezirk gilt als zerrüttet.

Alexander Nikolai war Spitzenkandidat der SPÖ Leopoldstadt und wird aller Voraussicht nach künftiger Bezirksvorsteher werden.
Foto: Astrid Knie

Mangelnde Infos

Viele Bewohner sind, angesprochen auf die Wahl, genervt von dieser – manche bemängeln auch, dass sie nicht mitkriegen würden, was die Bezirksvorstehung überhaupt politisch umsetze. "Wählen gehen interessiert mich schon lange nicht mehr", sagt etwa eine Frau während ihrer Zigarettenpause vor einer Supermarktfiliale.

Die Nichtwähler wolle er wieder zurückholen, kündigt Nikolai an; etwa durch Sprechstunden in Cafés, bei denen er Nöte und Bedürfnisse im Grätzl abfragen wolle. Was er jetzt schon weiß: Die Anwohner seien unglücklich mit dem angekündigten Busterminal beim Stadioncenter. "Da treten wir ein Erbe an, das wir so nicht haben wollten. Da müssen wir schauen, wie wir das in der Form vielleicht noch abwenden können." Überhaupt wolle er einen Fokus auf den Kontakt mit Bürgern setzen – sowohl in Bobo-Gegenden wie dem Karmelitermarkt als auch im Nordbahnviertel, in Gegenden rund um das Stadioncenter oder den Handelskai: "Im Beisl hörst auch Sachen, die dir sonst entgehen", sagt er.

Seine Umgestaltung wird auch in den nächsten Jahren Thema bleiben: Der Praterstern.
Foto: Heribert Corn

Rote Alternative

Der zweite Bezirk wird immer beliebter; seit einigen Jahren auch Gegenden wie das Stuwerviertel, das bei vielen mittlerweile als familienfreundliches Viertel gilt, vor wenigen Jahren aber noch primär mit dem Rotlichtmilieu assoziiert wurde. Klar sei es angenehm, dass am Abend nicht mehr Autos neben einem anhalten würden und man gefragt werde, wie viel man denn koste, sagt Sophia, die schon seit zehn Jahren hier lebt. Aber die Gentrifizierung habe auch eine Kehrseite: "Die Mietpreise sind mittlerweile unleistbar geworden."

Auch in den nächsten Jahren wird die Stadtentwicklung ein Thema bleiben, das die Bezirkspolitik beschäftigen wird. So gebe es zum Beispiel rund um das Viertel Zwei noch "durchaus Potenzial", meint Nikolai und verweist auf die noch unbebaute Trabrennbahn. Man müsse aber schauen, dass alles mit Maß und Ziel vonstattengehe, Grünraum solle möglichst erhalten bleiben.

Wie der Bezirk politisch tickt, ist jedenfalls recht eindeutig: Rot und Grün haben zusammen im Bezirk eine satte Mehrheit von etwa 65 Prozent. Der Tenor bei vielen am Tag nach der Wahl lautet: Hauptsache, Rot-Grün wird weitergeführt. Wer im Bezirk nun vorne sei, sei nebensächlich.

Sie hätte sich schon gewünscht, dass die Grünen ihre Arbeit fortsetzen können, sagt Tanja, die durchs Nordbahnviertel – eines der Prestigeprojekte von Rot-Grün – spaziert. Denn es sei viel weitergegangen, zum Beispiel in puncto Verkehrsberuhigung, sagt die Leopoldstädterin. Aber die SPÖ sei als kleineres Übel schon auch okay. (Vanessa Gaigg, 13.10.2020)