Migrationsforscher Gerald Knaus schreibt in seinem Gastkommentar darüber, was es in Sachen Migrations- und Flüchtlingspolitik in der EU bräuchte. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Klaus Schwertner von der Caritas: "Lesbos – die nächste Katastrophe mit Anlauf".

Diejenigen, die kein Recht mehr haben, hier zu sein, müssen zurückkehren. Das ist, was europäische Bürger von uns verlangen. Darauf fokussieren wir in unserem Vorschlag." So Kommissarin Ylva Johansson bei der Vorstellung des Migrationspakts am 23. September.

Es ist ein immer wieder erneuertes Versprechen europäischer Regierungen: Abgelehnte Asylbewerber, irreguläre Migranten und andere Ausländer, die in der EU ausreisepflichtig werden, müssen sie verlassen. Sofern die Ausreise nach einem fairen Asylverfahren erfolgt und nicht durch unmenschliche Bedingungen erzwungen wird oder erst nach jahrelanger, oft erfolgreicher Integration passiert, ist das Prinzip nicht kontrovers. Dennoch scheitern Regierungen daran seit Jahren.

Während die EU weiter nach Antworten auf die Asylfrage sucht: Kinder im Flüchtlingslager in Kara Tepe auf der griechischen Insel Lesbos.
Foto: Imago / ANE Edition / Panagiotis Balaska

Was wäre realistisch?

Die Kommission will nun einen EU-Rückführungskoordinator; "enge Kooperation und gegenseitige Partnerschaften" mit Herkunftsländern; sie droht, dass Drittländer, die sich weigern, ihre Bürger zurückzunehmen, weniger Visa erhalten werden. An den EU-Außengrenzen sollen Asylanträge von Flüchtlingen, die eine geringe Chance haben, in der EU Schutz zu erhalten, binnen weniger Wochen entschieden werden. EU-Regierungen, die sich weigern, Mittelmeeranrainerstaaten wie Griechenland, Italien und Spanien Flüchtlinge abzunehmen (etwa Ungarn), sollen stattdessen irreguläre Migranten (etwa aus Nigeria) aus diesen EU-Staaten binnen acht Monaten zurückführen. Und sie dann bei sich aufnehmen, wenn dies scheitert.

Letzteres ist ein absurder Vorschlag. Doch was wäre realistisch?

Das Kernproblem ist offensichtlich: Es ist die fehlende Bereitschaft vieler Länder, ihre Bürger zurückzunehmen. Das geht einfach, sie müssen nur ihre Staatsbürgerschaft nicht anerkennen oder keine Reisedokumente ausstellen.

Unpopuläre Abschiebungen

Im Jahr 2018 schob Deutschland auf dem Luftweg 21.059 Menschen ab. Knapp 8000 wurden in andere EU-Staaten abgeschoben (38 Prozent). 30 Prozent (6300 Menschen) in sechs Westbalkanstaaten. Acht Prozent (1700) in drei weitere Länder mit Reisefreiheit (Georgien, Moldau, Ukraine). Dann noch sechs Prozent (1300) in andere europäische Staaten wie Russland. Insgesamt wurden 82 Prozent in europäische Länder abgeschoben. In den Rest der Welt gab es 2018 nur 3800 Abschiebungen, davon 1700 nach Marokko, Algerien und Tunesien. Und in der ersten Jahreshälfte 2020, bis zur Corona-Krise, wurden nur rund 1000 in Länder außerhalb Europas zurückgeschickt.

Hilfe bei Abschiebungen ist in den Rücknahmeländern nicht populär. Die Bürger Senegals, Gambias oder Nigerias wissen, dass diejenigen, die es nach Europa geschafft haben, dafür ihr Leben riskierten. Als das gambische Fernsehen im Februar 2019 die Ankunft von 20 aus Deutschland abgeschobenen Gambiern in Handfesseln und von 60 deutschen Polizisten begleitet zeigte, brachen im Land Proteste aus. Es gab Gewalt am Flughafen, eine Kampagne in den sozialen Medien. Das setzte die demokratische Regierung unter Druck. Sie setzte alle weiteren Abschiebungen aus. In Gambia sind viele Familien auf die Überweisungen von Verwandten im Ausland angewiesen.

Was kann die EU tun?

2019 wurden EU-weit 26.050 Asylanträge von Nigerianern in erster Instanz abgelehnt, davon 7405 in Deutschland. Deutschland gelang es 2019, 404 Nigerianer abzuschieben. 2018 waren es 195.

Was kann die EU tun? Drohungen mit weniger Touristenvisa werden wenig ausrichten. In ganz Gambia stellt sowieso keine Botschaft Schengenvisa aus, dafür muss man nach Senegal reisen, was mühsam ist. Die EU muss Dinge anbieten, an denen Interesse besteht: einige Arbeitsvisa für Qualifizierte; Visa und Stipendien für Studenten; vielleicht sogar Regelungen für eine zeitlich befristete und kontingentierte Beschäftigung von Wenigerqualifizierten. Mehr legale Mobilität. Das muss jedes EU-Land frei entscheiden.

Dazu kommt: Die Aussicht, zehntausende Menschen aus Europa zurücknehmen zu müssen, ist für jede Regierung erschreckend. Sinnvoll wäre es, einen Ankunftsstichtag zu bestimmen: Alle, die ab diesem Tag X irregulär ankommen und deren Asylantrag abgelehnt wird, sollen sofort zurückgenommen werden. Dazu Straftäter. Dafür könnte es Integrationsmöglichkeiten für diejenigen geben, die sich in der EU aufhalten und ihre Chance auf Ausbildung oder legale Arbeit nutzen.

Reisefreiheit und Reformen

Bei Abschiebungen aus Deutschland fällt für das Jahr 2018 auf, dass 38 Prozent in die neun Länder zurückgebracht wurden, denen die EU Reisefreiheit im Gegenzug für Reformen gewährt hat. Eine der Bedingungen dabei war immer Zusammenarbeit bei Rückführungen. Und diese Zusammenarbeit funktioniert sehr gut. Die EU sollte auch Marokko, Algerien und Tunesien ein solches Angebot machen. Sie sind wichtige Herkunftsländer irregulärer Migranten und wichtige Transitländer. Derzeit nimmt Marokko rund ein Drittel seiner ausreisepflichtigen Bürger aus der EU zurück (um die 10.000 pro Jahr), Tunesien ein Viertel (um die 5000) und Algerien ein Fünftel (um die 3000). Ein Visumsliberalisierungsprozess würde zu mehr Rückführungen und zusätzlich zu einer besseren Zusammenarbeit bei der Bekämpfung irregulärer Migration führen. Er würde auch wichtige Reformen in den Bereichen organisierte Kriminalität und Korruption, Asyl, Grenzkontrolle, Dokumentensicherheit und Menschenrechte in Gang setzen. Wenn die EU das Problem der Rückführung irregulärer Migranten lösen will, braucht sie Rückkehrrealismus. Dazu gehört, diejenigen, die kein Aufenthaltsrecht in der EU haben, nach Hause zu bringen. Dann werden sich weniger Menschen auf den Weg machen und in der Sahara oder im Mittelmeer sterben. Das Recht auf Asyl wird dabei nicht verletzt, denn diejenigen, die Schutz brauchen, werden ihn bekommen und bleiben. (Gerald Knaus, 14.10.2020)

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