Natürlich war das Virus nie verschwunden, auch wenn manche Menschen es über den Sommer gern glauben mochten. Mit dem neuerlichen, schon im Frühjahr vorhergesagten Ansteigen der Infektionszahlen im Herbst waren aber auch diejenigen, die auf ein Wunder hofften, wieder auf dem Boden der Realität. Zu Beginn dieser aktuellen Phase – man sprach von Reiserückkehrern und überschaubaren Clustern – hoffte man noch auf ein effizientes Contact-Tracing – schnelle Testungen und Ergebnisse, Isolation der Infizierten und die Identifikation der Infektionsquelle.

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Mund-Nasen-Schutz in öffentlichen Verkehrsmitteln: Das Contact-Tracing sollte längst schneller laufen.
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Aus der Sicht des Komplexitätsforschers Stefan Thurner blieb es bei der Hoffnung. "Das Contact-Tracing funktioniert nicht im gewünschten Ausmaß. Es ist einfach zu langsam. Verdachtsfälle warten viel zu lange auf die Tests und auf die Ergebnisse", kritisiert er. Kontaktpersonen seien im Unklaren, ob sie angesteckt wurden, und liefen daher Gefahr, das Virus weiterzugeben – zumal eine Vielzahl an Infektionen symptomlos verlaufe.

Kurzfristprognosen

Thurner ist Präsident des Complexity Science Hub (CSH) in Wien-Josefstadt. Mit Beginn der Pandemie hat sein Team die Schwerpunkte der Forschungen in Richtung Corona verschoben – und ist bis heute in einer Wissenschaftergruppe aktiv, die sich um die bestmöglichen Kurzfristprognosen bemüht. Das vielbesprochene Contact-Tracing sei also das Problem. Politiker und Behörden hätten den Sommer verschlafen, "man hätte sich vorbereiten können". Aber wie? Durch einen höheren Grad an Digitalisierung, sagt Thurner. Wie er sich das vorstellt? Ungefähr so: Wer immer bei der Gesundheitsnummer 1450 anruft, um Beschwerden zu beschreiben, und damit auch einen Test beantragt, sollte sofort ein entsprechendes Formular via Smartphone erhalten, in dem er Kontaktdaten von Personen bekanntgibt, die er möglicherweise angesteckt haben könnte.

"Das würde den Behörden viel Zeit ersparen, um Cluster zeitnah zu identifizieren", sagt Thurner. Voraussetzung dafür sei selbstverständlich ein öffentlicher Diskurs über die Weitergabe von Daten zum Zwecke der Pandemiebekämpfung – erst nach einer gesellschaftlichen Übereinkunft darüber könne man die vorgeschlagene Digitalisierung vornehmen. Und wenn darüber hinaus die Testungen mit mehr Personal schneller ablaufen, könne man das Virus sogar "logistisch ausrotten", sagt Thurner. Schon im Frühjahr hätten Studien, die in renommierten Journals erschienen, diese Chance beschrieben. Er habe mit den Daten eine Simulationsrechnung durchgeführt, die diese Studie bestätigt. "Ich verstehe nicht, warum man diese Vorschläge aus dem Frühjahr nicht umgesetzt hat."

Digitalisierung verschlafen

Das Verschlafen des nötigen Digitalisierungsschritts sei freilich kein österreichisches, sondern ein weltweites Problem. "Das wurde nirgendwo so umgesetzt, dass man den Corona-Stress von der Bevölkerung nehmen könnte." Thurner warnt aber vor Panik angesichts der nun steigenden Infektionszahlen. "Wir wissen heute viel mehr über das Virus als noch im Frühjahr." Man müsse aber versuchen, die Zahlen zu halten.

Stefan Thurner, Präsident des Complexity Science Hub in Wien.
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Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch ein Policy-Brief des Complexity Science Hub. Eine unkontrollierte Ausbreitung von Covid-19 könne nach wie vor zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen. Diesen Punkt würde Österreich bei etwa 4.700 bis 7.800 Neuinfektionen täglich erreichen. Derzeit sind es knapp über 1.000. Ein zweiter Lockdown könne verhindert werden, wenn die Bevölkerung Maßnahmen wie Hygiene und Abstandhalten mitträgt und – sollten die Fallzahlen weiter steigen – auf Risikoaktivitäten wie private Feiern verzichtet. "Um das zu erreichen, sollten die Verantwortlichen auf Aufklärung, Transparenz und Empfehlungen setzen statt auf Drohungen und Verbote", heißt es im Brief. (Peter Illetschko, 15.10.2020)