Der Tunnelblick genießt keinen guten Ruf. Dabei kann er gelegentlich sogar den Horizont erweitern. Dann etwa, wenn er sich ausschließlich auf ein schwarz-weißes Schachbrett richten soll. Vergessen ist in dem Moment das Gegenüber, was es anhat, wie es aussieht, wie es spricht, wo es wohnt, woher es kommt. Ausschließlich eine Sache zählt: was es kann. Und zwar nur auf diesen 64 Feldern.
Jeden Freitagnachmittag lädt die Initiative Chess Unlimited zum Schachspielen auf dem Platz der Menschenrechte. Am unteren Ende der Mariahilfer Straße wird ein langer Tisch aufgestellt, jeder kann mitspielen. Egal ob Softwareentwickler oder Obdachloser. Touristin oder Flüchtling. Enkelin oder Großvater. Louis Vuitton oder Primark. Sie alle kommen, freiwillig, en passant, ganz ohne verkrampftes Integrationslächeln, nicht, um Gutes zu tun, sondern weil sie spielen möchten.
Bis Mitternacht und weit darüber hinaus wird an der knapp sechs Meter langen Tafel gegrübelt. Vollkommen konzentriert, mitunter meditativ still starren die 26 Männer und Frauen auf ihre aufgeklappten Bretter. Partie um Partie sitzen sie da, merken nicht, dass es dunkel wird, es nieselt und die Kälte längst in den Knochen gekrochen ist. Fast so, als wäre eine Kuppel um den Tisch gespannt, die sie abschottet von der Außenwelt mit ihren Reizen, Ansprüchen und Oberflächlichkeiten.
Zwischen Stille und Schachdiss
Die einen sitzen einander stumm gegenüber, wie Morteza, der Architekturstudent aus dem Iran, der auf seinen Asylbescheid wartet, und Lenny, der Hak-Schüler aus der Josefstadt, der in der Quarantäne zu spielen begonnen hat. Unterhalten können sich die beiden nur in der Sprache eines jahrtausendealten Spiels, das überall auf der Welt nach denselben Regeln funktioniert.
Die anderen sind da schon etwas lauter. So wie Annika und Enis. Sie, Gymnasiastin aus dem ersten Bezirk, er Hauptschüler aus Meidling. Sie altklug, er aufschneiderisch. "Dein Problem ist, dass du mit einer Taktik spielst und ich nicht. Deswegen verlierst du", doziert Annika. "Ich bin dir zehn Züge voraus, ich habe schon längst gewonnen", kontert Enis und zeigt mit dem Finger auf seinen Kopf. – Beide grinsen.
"Trashtalk" vom Feinsten. Bei Schachturnieren ist es eigentlich untersagt zu sprechen. Doch inoffiziell darf gedisst werden. Das macht man so beim Schach, in den großen Städten, auf den Plätzen, in den Parks, das ist Tradition, flüstert einer der umstehenden Experten. Das Ziel ist, den Gegner zu verunsichern.
Annika und Enis beherrschen den Schachdiss einwandfrei. Wer nicht weiß, dass sich die beiden an diesem Abend zum ersten Mal begegnet sind, könnte denken, dass hier alte Freunde spielen, die sich gerne aufziehen. Hin und wieder stellen sie einander persönliche Fragen, in welche Schulen sie gehen, womit sie einmal ihr Geld verdienen wollen. "Ich will Psychologin werden", sagt Annika. Enis schaut sie anerkennend an. "Ja, mir gefällt es auch, etwas zu machen, mit dem ich Menschen helfen kann, etwas, das einem ein gutes Gefühl gibt", sagt er.
Dann richten sie ihren Blick wieder auf die Figuren, als hätten sie eine ungeschriebene Regel verletzt. Unter der Kuppel findet keine Musterung statt. Hier werden keine Statusinsignien abgeklopft, keine Schubladen geöffnet. Das alles bleibt schön draußen.
Integration kann spielerisch sein
Das Spiel ist der dankbare Puffer in einer hitzigen Diskussion. So hat es Kineke Mulder, die Initiatorin von Chess Unlimited, intendiert. Vor fünf Jahren kam die Grafikdesignerin auf die Idee, Schach im öffentlichen Raum anzubieten. Damals, während der Flüchtlingskrise 2015, am Hauptbahnhof. Mit ihrem Schachbrett unter Arm wollte sie dort den Gestrandeten die Zeit vertreiben – und ihr eigenes "mulmiges Gefühl" abbauen, das damals entstanden war, als ständig von der "Flüchtlingswelle" die Rede war, gesteht sie. Das mulmige Gefühl war nach der ersten Partie weg.
"Es war schön zu sehen, was es mit den Kindern macht, wenn sich ihre Väter plötzlich entspannen, weil sie in diesem Schach-Flow sind", erzählt sie. Bis zu 20 Stunden die Woche hat Mulder dort gespielt. Später auch in Flüchtlingsheimen, der Hauptbücherei und seit einem Jahr auf dem Platz der Menschenrechte.
Sie selbst kam mit neun Jahren mit dem Spiel in Berührung. Ein Bekannter ihrer Mutter hat sie angefixt. Geboren und aufgewachsen im "calvinistischen und sehr spaßbefreiten" Groningen im Norden der Niederlande, war er eine Ausnahmeerscheinung. Ein Notar, der Whiskey trank, rauchte und am Computer Schach spielte. "Das war der erste Erwachsene für mich, der eine Begeisterung hatte. Deswegen habe ich damals beschlossen, dass ich auch rauchen, Whiskey trinken und Schach spielen will", sagt die 49-Jährige und lacht.
Pathologisches Klassenbewusstsein
Jeder am Tisch hat eine derartige Anekdote über den Moment der Initialzündung parat. Oft war es der Vater oder Großvater, der einem zum Brett geholt hat. Einige sind der Familienpassion treu geblieben. So treu, dass sie selbst im Herbst mit klammen Händen im Freien sitzen. Zug um Zug wird die Runde am Tisch eingeschworener, Bier wird gereicht, Zigaretten geteilt. Passanten bleiben immer wieder stehen, um den Spektakel des denkenden Menschen im Kollektiv beizuwohnen. Andächtig tigern einige um die Tafel, bis sie einer zum Tisch lädt und selbst den blutigsten Anfängern gut zuspricht, es doch auch zu versuchen. Irgendwer wird sich schon finden, der einem das Spiel der Könige zeigt.
Edwin zum Beispiel. Geduldig erklärt er, was jede Figur so kann, und sieht kulant darüber hinweg, dass sein Gegenüber den Springer ignorant nur "das Pferd" nennt. "Du musst deine Figuren entwickeln", rät er. Doch er hat den tückisch internalisierten Klassismus seiner Spielpartnerin unterschätzt. Die einzigen "Figuren", die hier entwickelt werden, sind jene aus der ersten Reihe: die acht Bauern. Die können ohne weiteres vorpreschen. Und ja, geopfert werden. Aber Springer, Läufer, Turm aus der Deckung holen, geschweige denn die Dame? Keine Chance. Die Mächtigen bleiben schön, wo sie sind. In Sicherheit. Wie im echten Leben.
Edwin ist amüsiert über das pathologische Klassenbewusstsein. Einige Schachtheoretikerinnen nennen diese Taktik auch "Schneckenhausschach", wie Kineke Mulder erklärt. Es ist offenbar beliebt unter Frauen. So wurde beobachtet, dass Frauen eher versuchen, ihre Figuren zu schützen und ihre Schachdelegation kaum in die Hälfte des Schachfelds des Gegners zu bewegen wagen.
Edwin grinst. Schachmatt. In nur wenigen Zügen hat er gewonnen. Der snobistische Protektionismus hat seiner Gegnerin nicht geholfen. Ihr König ist tot. Die Lektion wurde gelernt. Wer gewinnen will oder auch nur überleben, muss sich schon bewegen. Wie im echten Leben. (Solmaz Khorsand, 14.10.2020)