Wiener Forscher konnten nachweisen, dass ein an Covid-19 Erkrankter im Schnitt 500 Coronaviren abbekommen hat.
Illustr.: imago images/Alexander Limbach

Wien – Wie groß muss die Viruszahl sein, der man durch einen Infizierten unmittelbar ausgesetzt ist, um selbst an Covid-19 zu erkranken? Österreichische Wissenschafter haben darauf nun möglicherweise eine Antwort gefunden: Ein Covid-19-Patient hat im Schnitt 500 Coronaviren abbekommen, berichtet Andreas Bergthaler vom Forschungszentrum für Molekulare Medizin (CeMM) in Wien. Nur diese relativ hohe Zahl an Viren kann demnach die Krankheit auslösen. Vermutlich sind einfache Maßnahmen wie Maskentragen und Abstandhalten deshalb so erfolgreich, die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen: Sie verringern die Zahl der Viren, denen man ausgesetzt ist, sagte er Montag Nachmittag bei einem Vortrag.

Vergleichsweise hohe Zahl

Um herauszufinden, wie viele Viren bei einer Infektion von Mensch zu Mensch übertragen werden, hat Bergthaler mit Kollegen das Erbgut der Viren bei Überträgern (Infektoren) und den von ihnen angesteckten Personen (Infizierten) untersucht. Diese Pärchen wurden mittels Nachverfolgung der Kontaktpersonen (Contact Tracing) ermittelt.

Wenn der Infizierte nur wenige Virus-Varianten des Infektors trägt und trotzdem krank ist, heißt das, dass es schon gefährlich ist, wenn man mit wenigen Viren in Kontakt kommt. Wenn viele Virus-Varianten vom Infektor beim Infizierten zu finden sind, sind viele Viren nötig, um die Krankheit auszulösen, so der Forscher von dem zur der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) gehörenden CeMM bei einem Online-Vortrag des Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF), der auch die Studie finanziert hat. Die Untersuchung befindet sich aktuell noch in der wissenschaftlichen Begutachtung und kann auf den Preprintserver bioRxiv eingesehen werden.

Die Wissenschafter berechneten, dass im Durchschnitt gut 500 Viren pro Infektion übertragen wurden. Auf der ganzen Welt gab es bisher noch keine Daten dazu, wie viele Viren nötig sind, um eine Covid-19 Erkrankung auszulösen, so Bergthaler. Im Vergleich zu anderen Viruserkrankungen wäre diese Zahl recht hoch.

Vergleich mit Grippe und HIV

Bei Influenza A (das ist der einzige Grippevirentyp, der sich weltweit ausbreiten kann) gibt es unterschiedliche Zahlen in wissenschaftlichen Studien. Manche Forscher sprechen von einem einzelnen Grippevirus, manche von zehn bis hundert Viren, die eine Infektion auslösen können. Zum Vergleich: Auch bei HIV braucht es eine relativ hohe Viruslast, um eine Ansteckung zu gewährleisten. So zeigten etwa Studien, dass Personen mit 200 Viruskopien oder weniger pro Milliliter Blut bei ungeschütztem Verkehr nicht infektiös sind.

Ob und wie stark jemand an Covid-19 erkrankt, könnte laut diesem Forschungsergebnis eine "reine Zahlengeschichte" sein, meint der Wiener Wissenschafter. Wenn man wenige Viren abbekommt, wäre der Krankheitsverlauf demnach schwächer, oder man wird vielleicht gar nicht krank.

Es würde auch den Nutzen von einfachen physischen Maßnahmen wie Mund-Nasen-Schutzmasken und dem Abstandhalten erklären, sagte Bergthaler: Selbst wenn sie nicht verhindern, dass man mit Sars-CoV-2 in Kontakt kommt, könnten sie die Zahl der Viren stark reduziert, denen jemand ausgesetzt ist. Damit würden sie die Ausbreitung der Pandemie und die Infektionswellen massiv abschwächen.

Wie ein zweiter Lockdown verhindert werden kann

Derartige Maßnahmen könnten auch verhindern, dass es zu einem weiteren Lockdown kommt, erklärte der Komplexitätsforscher Peter Klimek in einer am Dienstag veröffentlichten Analyse. "Ein zweiter Lockdown kann verhindert werden, wenn die Bevölkerung Einschränkungen wie Hygiene und Abstandhalten mitträgt, aber auch auf mittlerweile bekannte Risikoaktivitäten wie private Feiern so weit wie möglich verzichtet." Um das zu erreichen, sollte die Politik "mit Aufklärung, Transparenz und Empfehlungen arbeiten statt mit Drohungen und Verboten".

In dem "Policy Brief" hat Klimek auf Basis der Modellierungen und statistischen Analysen des Complexity Science Hub Vienna (CSH) untersucht, wie kritisch die aktuelle Corona-Lage in Österreich ist und welche Maßnahmen benötigt werden. Der Wissenschafter betont, dass eine unkontrollierte Ausbreitung von Covid-19 nach wie vor zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen kann, speziell was die Intensivbettenkapazität betrifft. "Diesen Punkt würden wir bei etwa 4.700 bis 7.800 Neuinfektionen täglich erreichen", so Klimek.

Modellierung der belegten Intensivbetten in Abhängigkeit des 14-Tage-Schnittes der täglich positiv Getesteten. Der rote Punkt zeigt die aktuelle Lage in Österreich.
Grafik: CSH

Weiteres Wachstum nicht ausgeschlossen

Davon sei man mit derzeit rund 900 Fällen pro Tag im 14-Tage-Schnitt noch weit entfernt. Dennoch sei ein derartiges Wachstum innerhalb weniger Wochen bis Monate nicht auszuschließen, betont Klimek unter Hinweis auf andere Länder bzw. Regionen wie Israel oder Madrid. Er verweist in diesem Zusammenhang auch auf zunehmende Aktivitäten in geschlossenen Räumen in den nächsten Monaten, mit der das Risiko für sprunghafte Zuwächse bei den Infektionen steige.

In die Analyse sind auch die Ergebnisse einer statistischen Untersuchung des CSH von 54.000 Corona-Maßnahmen eingeflossen, die in mehr als 200 Ländern im März und April getroffen wurden. Als wirksamste Maßnahmen wurde dabei das Verbieten aller Aktivitäten identifiziert, bei denen die Menschen in kleinen Gruppen länger miteinander nahen Kontakt haben, also die Schließung von Geschäften, Lokalen, Büros und Schulen (speziell von höheren Schulstufen).

Stärkung des Gesundheitssystems

Allerdings seien viel weniger einschneidende Maßnahmen fast genauso wirksam, so Klimek. Hochwirksam seien auch die Stärkung des Gesundheitssystems etwa durch die Trennung von Infekt- und Nicht-Infekt-Patienten sowie der Schutz von Spitälern und Pflegeheimen, die Absage von Großveranstaltungen, Reisebeschränkungen und die finanzielle Unterstützung vulnerabler Bevölkerungsgruppen, etwa damit sich prekär Beschäftigte bei Symptomen eine Selbstisolation erlauben und leisten können.

Es gebe aber "keine eierlegende Wollmilchsau". Keine Maßnahme reiche alleine aus, um das Infektionsgeschehen zu bremsen, selbst den wirksamsten könne man nur eine Reduktion der Virusausbreitung von maximal rund 20 Prozent zuschreiben. "Angesichts solcher Ergebnisse ist es umso überraschender, dass eine Reduzierung der Infektionen um 20 Prozent durch das einfache Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes mancherorts als wenig wirksam erachtet wird", erklärte Klimek, auch unter Hinweis auf den nicht nur in Österreich laufenden "pseudowissenschaftlichen Glaubenskampf" über notwendige Maßnahmen.

Welche Maßnahmen welche Wirkung zeigen. Die Grafik zeigt, die durchschnittliche Reduktion in der effektiven Reproduktionszahl, die mit einer Implementierung der jeweiligen Maßnahme einhergeht.
Grafik: CSH

Riskante Superspreading-Events

Der Wissenschafter hält weiterhin einen regional zugeschnittenen Maßnahmenmix für nötig, um die Epidemie unter Kontrolle zu halten. Als Eckpfeiler einer solchen Mischung nennt er die grundlegenden Verhaltensregeln – Hygiene, Abstand, Maske an überfüllten geschlossenen Orten – sowie Testen, Tracing und Isolieren von Verdachtsfällen. Sobald man bei Letzterem überfordert sei, gehe ein besonderes Risiko von sogenannten Superspreading-Events aus, etwa bei Veranstaltungen mit vielen Leuten auf engem Raum. "Maßnahmen zur Einschränkung von privaten Feiern und ähnlichen Veranstaltungen sollten daher Priorität haben, bevor an flächendeckendere Ausgangssperren oder Schulschließungen gedacht wird", so der Forscher.

Er erachtet zur erfolgreichen Bekämpfung der Epidemie "einen nationalen Schulterschluss" für notwendig, "hier kann sich weder die Bevölkerung an der Politik noch die Politik an der Bevölkerung 'abputzen'". Mit einem unumschränkten wissenschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit von Corona-Maßnahmen sei nicht zu rechnen, auch aufgrund von politischen Interessen, erklärte Klimek. Dennoch könne man der Wissenschaft insgesamt trauen. "Der bei weitem überwiegende Teil wissenschaftlicher Erkenntnisse sagt klar, dass weder Alarmismus bei marginal steigenden Fallzahlen angebracht ist, noch an ein unkontrolliertes Laufenlassen der Epidemie zu denken ist." (red, APA, 13. 10. 2020)