Der Historiker Oliver Rathkolb will in die Debatte über die Umgestaltung von Denkmälern auch die Bevölkerung einbinden.

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Künstler brachten Anfang Oktober Betonschriftzüge am Karl-Lueger-Denkmal in Wien an, daraufhin kamen Rechtsextreme, die diese Schriftzüge wieder abhämmerten.

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Die 2016 angebrachte Zusatztafel am Lueger-Denkmal ist für Rathkolb nicht genug.

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Seit der "Schandwache" vor dem umstrittenen Karl-Lueger-Denkmal am Wiener Stubentor ist die Debatte über Denkmäler wieder entfacht. Der Historiker Oliver Rathkolb gibt sich mit seiner selbstformulierten Zusatztafel am Fuße Luegers nicht zufrieden. Er plädiert für eine Umgestaltung des Denkmals. So soll die Statue zur Aufforderung werden, sich mit Antisemitismus auch in der heutigen Gesellschaft auseinanderzusetzen.

STANDARD: War Karl Lueger mehr jener Bürgermeister, der Wien modernisierte, oder jener Antisemit, der das politische Klima für den NS-Terror bereitete?

Rathkolb: Lueger war beides, wobei man ihn heute anders positionieren muss. Als Bürgermeister schuf er eine kommunale Infrastruktur, die dann als Basis für das Rote Wien galt. Er war aber auch ein katholischer Antisemit, der in unglaublich aggressiver und rabiater Form jüdische Wiener verfolgte. Ich warne allerdings davor, eine direkte Verbindung zur Shoa herzustellen. Für Adolf Hitler war er ein Idol, jedoch propagierte Lueger nicht die totale Vernichtung des europäischen Judentums.

STANDARD: Ich frage, weil auf der von Ihnen 2016 formulierten Zusatztafel bei seinem Denkmal Lueger in sieben Sätzen gewürdigt wird. In nur zwei Sätzen wird sein Antisemitismus erwähnt. Stimmt dieses Verhältnis?

Rathkolb: Ich möchte mit aller Deutlichkeit klarstellen, dass es hier nicht um Quantitäten geht. Wichtig ist die qualitative Aussage. Diese ist eindeutig.

STANDARD: Reicht die Zusatztafel also aus?

Rathkolb: Nein, natürlich nicht. Schon damals war die Tafel nicht genug. Es braucht eine sichtbare Auseinandersetzung mit dem Denkmal, seinem Künstler und seinem Namensgeber. Hier sind junge Künstler gefragt, dieses Denkmal sichtbar zu dekonstruieren.

Die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz zeigte sich mit der Protestaktion beim Lueger-Denkmal solidarisch und forderte eine "Weggestaltung". Davon hält der Historiker Oliver Rathkolb nichts.
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STANDARD: Bereits 2010 haben sich Künstler Gedanken gemacht, wie eine Umgestaltung aussehen könnte. Passiert ist derweil nichts. Warum?

Rathkolb: Das damalige Siegerprojekt des Wettbewerbs zur Umgestaltung sieht eine Schiefstellung der Statue vor. Das ist intellektuell spannend, aber realistischerweise leider nicht umsetzbar. Ich plädiere für einen neuen Wettbewerb, der auch auf die Realisierung achtet. Der Freiheit der Kunst sind da sonst keine Grenzen gesetzt.

STANDARD: Manche fordern die "Weggestaltung" beziehungsweise Verlegung des Denkmals in ein Museum. Was halten Sie davon?

Rathkolb: Das ist für mich ein Versuch, Geschichte auszulöschen. Lueger ist im Negativen als auch im Positiven Teil unserer Geschichte. Damit müssen wir uns auseinandersetzen, deshalb muss er im öffentlichen Raum bleiben.

STANDARD: Es hat sich aber zum Glück einiges getan.

Rathkolb: Zu suggerieren, wir sind besser als Lueger, finde ich nicht richtig. Das passt nicht mit unserer Gegenwart zusammen, in der Antisemitismus leider noch immer Teil ist. Das Lueger-Denkmal soll zu einer Aufforderung werden, sich ständig mit Rechtspopulismus und Antisemitismus auseinanderzusetzen. Deshalb bin ich auch gegen die Umbenennung von Straßennamen.

DER STANDARD

STANDARD: Damit wären wir beim Karl-Lueger-Platz. Weil man an eine Postadresse kein Taferl anhängen kann, setzte sich die Universität Wien erfolgreich für die Umbenennung des Karl-Lueger-Rings ein. Warum nicht auch den Platz umbenennen?

Rathkolb: Das ist ein Sonderfall, da die internationalen Reaktionen so heftig waren. In meiner Fantasie geht jeder, der diese Postadresse kennt, am neuentwickelten Lueger-Denkmal vorbei und sieht, wie Lueger in seinem Antisemitismus und in seiner Bedeutung für Wien dekodiert ist.

STANDARD: Also Umbenennungen nur an Orten mit repräsentativen Institutionen?

Rathkolb: Das ist eine politische Frage. Allerdings bin ich stark dafür, Anrainer vor Ort in die Entscheidungen einzubinden. Historiker sollen nicht verordnen, sondern in Dialog treten. Beim Lueger-Denkmal sollte man die Chance nutzen: Wir müssen uns auch selbst an den Pranger stellen. Lueger ist Geschichte, aber wir sind Gegenwart.

STANDARD: Wenn es um Lueger geht, nennen Kritiker sofort auch den Karl-Marx-Hof. Wird mit zweierlei Maß gemessen?

Rathkolb: Ich halte das für ein Ablenkungsmanöver. Es soll über Karl Marx diskutiert werden, aber zuerst müssen wir vor der eigenen Haustür kehren. Da können wir nach Lueger mit Karl Renner weitermachen: Er war in Österreich einer der bedeutendsten Staatsmänner des 20. Jahrhunderts, aber ist selbst auch ein Spiegelbild der damaligen Gesellschaft, Antisemitismus und politischer Opportunismus inklusive. Seine Persönlichkeit müsste man langsam auf den Kopf stellen, auch wenn das für die Parteien, besonders für die SPÖ, schwer sein wird.

STANDARD: Wie sollen wir mit so ambivalenten Persönlichkeiten umgehen?

Rathkolb: Es führt kein Weg an der politischen Bildung im öffentlichen Raum vorbei. Österreich hat dieses Thema extrem vernachlässigt. Ein Pflichtfach Politische Bildung an Schulen wäre wirklich wichtig.

STANDARD: Das ist aber ein anderes Thema.

Rathkolb: Nein, wir können uns nicht immer einen Baum herausnehmen und dabei auf den ganzen Wald vergessen. Wenn wir den Kampf gegen Antisemitismus wirklich ernst meinen, muss dieses Thema zentral werden. (Laurin Lorenz, 15.10.2020)