Alexander Gottfarb bei seinem Nacktposen-Solo, wobei er seine Körpermitte mit einem Ausschnitt aus Agnolo Bronzinos Gemälde "Allegorie der Liebe" verdeckt.

Foto: Chris Haring

Nach der Uraufführung ihres aktuellen Tanzstücks Blue Moon you saw nimmt die Wiener Company Liquid Loft ihr Publikum bei Impulstanz im Odeon mit in die Zukunft der Vergangenheit. Vor dreizehn Jahren haben die Gruppe und ihr Choreograf Chris Haring für Posing Project B – The Art of Seduction den Goldenen Löwen der Biennale di Venezia erhalten. Seit damals war das Stück unter anderem in England, Spanien, Schweden, China und Südkorea auf Tournee.

Aber wer in Wien weiß noch genau, wie diese Arbeit, die 2007 nach ihrer Premiere in der Lagunenstadt auch beim Impulstanz-Festival zu sehen war, funktioniert hat? Damals hieß es in der Jury-Begründung, diese Choreografie gebe einen Ausblick auf die Zukunft des zeitgenössischen Tanzes. Jetzt kann mit gutem Gewissen behauptet werden, das Morgen von damals ist angekommen. Wie wegweisend also war das Posing Project B tatsächlich?

Narzissmus als Kulturprinzip

Jetzt lassen Impulstanz und Liquid Loft es zum 15. "Geburtstag" der Company wiederaufleben. In der freien Szene haben Reprisen einen so hohen Seltenheitswert, dass ihnen der Rang einer zweiten Premiere zukommt. Zu sehen ist nun also ein bemerkenswertes Beispiel österreichischer Choreografie, wie es in den Nullerjahren konzipiert wurde – an einem anderen Schauplatz, mit derselben, aber um dreizehn Jahre gereiften Besetzung und in verändertem kulturellen Umfeld.

Um es gleich zu sagen: Die Jury lag weitgehend richtig. Denn in den Zehnerjahren dieses jungen und alles andere als braven Jahrhunderts ist der im Stück liebevoll, aber gründlich verarschte Narzissmus zum verbreiteten Kulturprinzip geworden. Und aus dem einstigen, auch durch Social Media getriggerten Hang zum Posieren hat sich ein zuweilen neurotisch wirkender Zwang zur Selbstdarstellung entwickelt.

Brisantes Posen

Brisanter als 2007 wirkt heute etwa ein gockelhaftes Nacktposen-Solo von Alexander Gottfarb. Warum? Weil der Tänzer seine Körpermitte mit einem Kunstbuch bedeckt, das einen Ausschnitt aus Agnolo Bronzinos kurz vor 1550 entstandenem Gemälde Allegorie der Liebe zeigt, auf dem ein kleiner Cupido die schöne Venus küsst.

Jessas, ein Kind und eine ausgewachsene Frau! Ist das nicht eigentlich ein Aufruf zu …? Zur Erinnerung: Während der Nullerjahre wurde Kunst noch weniger mit Propaganda gleichgestellt. Überhaupt in Österreich, wo man ohnehin eher zu genießerischer Gelassenheit neigt. Möglicherweise wird hier auch die anschwellende ikonoklastische Cancel-Culture künftig nicht so heiß gegessen wie anderswo.

Bitternis statt Erfüllung

In Posing Project B – The Art of Seduction kommt eine unstillbare Sehnsucht nach Lust und Nähe zum Ausdruck. Tückischerweise bewirkt das Anwachsen dieses Begehrens das genaue Gegenteil von Erfüllung: Der große Sinnenschwulst wirkt von Beginn an mechanisch. Aus der Darstellung dieses Widerspruchs gewinnt die Performance ihre köstliche Ironie samt der damit einhergehenden Bitternis. Nach Gottfarbs Auftakt reihen sich grandiose Soloauftritte auch von Stephanie Cumming, Luke Baio, Katharina Meves und Anna Maria Nowak aneinander.

So eindringlich sich die fünf Figuren auch in Szene setzen, sie gleiten doch immer wieder in Leerläufe und Isolation ab. Schöne Erinnerungen werden geweckt, aber gleich wieder weggewischt. Und kaum wirft die Sinnenfreude ihre süßesten Blasen, platzt die Illusion, kippt die Stimmung, mischt sich schon etwas anderes ein. Die fünf Heldinnen und Helden geben trotzdem nicht auf. Bis zum Schluss. (Helmut Ploebst, 14.10.2020)