Eine Frau bei einer Pro-Armenien-Kundgebung in Rom. Das erneute Aufflammen des Konflikts in Bergkarabach findet weltweit Beachtung.

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Der am Wochenende geschlossene Waffenstillstand hat die Kriegshandlungen im Kaukasus bislang nicht stoppen können. Immer noch kämpfen Eriwan und Baku verbissen um jeden Meter in der umstrittenen Region, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird, völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan gehört. Warum das so ist und warum die Region bei der Lösung des Problems in Richtung Schweiz schauen sollte, erklärt der Kaukasus-Experte Philipp Ammon.

STANDARD: Tschetschenien-Krieg, Abchasien-Krieg, Südossetien-Konflikt, Bergkarabach-Krise: Das Wort Kaukasus löst oft Kriegsassoziationen aus. Ist der Kaukasus historisch tatsächlich eine besonders umkämpfte Region?

Philipp Ammon: Durch den Kaukasus laufen seit jeher viele Handelsrouten. Neben der bekannten Seidenstraße ist der Kaukasus auch im Nord-Süd-Verkehr ein Knotenpunkt. Die strategisch wichtige Lage weckte einst das Interesse gleich dreier Machtzentren, die dort um die Vorherrschaft stritten: im Südosten die Perser, im Südwesten zunächst das Römische, dann das Byzantinische und später das Osmanische Reich und im Norden dann auch das Russische Reich. So mussten sich die Bewohner stets nach außen militärisch schützen. Dadurch ist eine wehrhafte Mentalität entstanden.

STANDARD: Warum liegt das von Armeniern bewohnte Bergkarabach überhaupt in Aserbaidschan?

Ammon: Bis zum Vertrag von Turkmantschai 1828 gab es das ethnisch sehr durchmischte Khanat Karabach. Später nahm der Anteil der Armenier deutlich zu, weil sie vor Verfolgungen im Perserreich und dem Osmanischen Reich nach Russland flüchteten. Diese Homogenisierung setzte sich zu Sowjetzeiten fort.

STANDARD: Trotzdem wurde die Region Aserbaidschan zugeschlagen. Warum?

Ammon: Damit sollte der Kaukasus insgesamt fester an die Sowjetunion gebunden werden. Das Matrjoschka-Prinzip, in der jede Republik noch einmal in autonome Gebiete unterteilt wurde, sollte nationale Sezessionsbewegungen erschweren. Diese bewusste Verknäuelung diente dem Prinzip "Teile und herrsche".

STANDARD: Wo liegen die Ursachen des Bergkarabach-Konflikts?

Ammon: Erste Massaker zwischen Armeniern und Aserbaidschanern gab es schon zu Zarenzeiten. Sie waren religiös, aber auch sozial bedingt, weil Armenier aufgrund ihres Bildungsdrangs schneller aufstiegen als ihre Nachbarn. Das weckte Neid.

Aber Ursache des aktuellen Konflikts ist eben die sowjetische administrative Verschachtelung, die Ende der 1980er-Jahre in vielen Republiken zu ethnischen Konflikten führte. Die Armenier baten in Moskau um die Übergabe Bergkarabachs, was in Aserbaidschan natürlich nicht gut ankam. Es folgten die Pogrome in Sumgait 1988 und in Baku 1990 an der armenischen Minderheit. Auf der Gegenseite verübten Armenier 1992 in Chodschali ein Massaker an Aserbaidschanern. Seither sehen sich beide Völker als Todfeinde. Ohne Willen der Großmächte ist kein Frieden möglich.

STANDARD: Welche Rolle spielen Moskau, Ankara und Teheran?

Ammon: Die Türkei unterstützt Aserbaidschan seit Jahren unter der Losung "Ein Volk, zwei Staaten". Jetzt ist die Hilfe offener denn je, wohl auch, um von eigenen inneren Problemen abzulenken und die sinkende Popularität von Tayyip Erdoğan zu festigen. So liefert Ankara die Bayraktar-Drohnen, wohl einige Militärberater und lässt syrische Kämpfer in das Konfliktgebiet passieren.

Russland wiederum versteht sich als traditionelle Schutzmacht Armeniens, wird aber nicht automatisch militärisch auf Eriwans Seite eingreifen. Moskau will vor allem den Südkaukasus als Einflusssphäre nicht verlieren. Dazu setzt der Kreml auf gute Beziehungen zu Eriwan und Baku. Zum Konflikt beigetragen hat Russland durch den eifrigen Waffenverkauf in die Region – an Aserbaidschan zum Weltmarktpreis, an Armenien zum Selbstkostenpreis. Der Iran hat historisch enge Bindungen zu Aserbaidschan, hilft aber im Konflikt eher Armenien, weil Teheran bei einem Erstarken Aserbaidschans Abspaltungsbestrebungen der aserbaidschanischen Minderheit im eigenen Land fürchtet.

STANDARD: Ist noch jemand involviert?

Ammon: Die USA und Israel wollen in den Iran hineinhorchen und haben daher in Aserbaidschan Interessen. Auch darum hat Israel die Harop-Drohnen an Baku geliefert. Die Drohnen sind die technologische Basis für den aserbaidschanischen Vorstoß in Bergkarabach, denn die Kampfkraft der aserbaidschanischen Armee schätze ich schwächer als die der armenischen ein, weil die Staatsbindung der Aserbaidschaner geringer ist und ihre Motivation zu kämpfen auch.

STANDARD: Gibt es denn eine Lösung für den Konflikt?

Ammon: Das beste Modell für den gesamten Kaukasus, nicht nur für Bergkarabach, wäre wohl eine Kantonslösung à la Schweiz, wonach jedes Sprachgebiet sich möglichst weit selbst verwaltet und der Kaukasus insgesamt eine Föderation bildet. Das erfordert aber viel guten Willen und Druck von außen, denn untereinander sind Armenier und Aserbaidschaner derzeit nicht kompromissfähig. Derzeit ist so etwas sehr unwahrscheinlich, auch weil Russland und die Türkei keine langfristige Strategie haben, sondern eher situationsgebunden reagieren. (André Ballin, 15.10.2020)


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Nahost-Expertin und leitende Redakteurin Gudrun Harrer über die Wurzeln des Konflikts und die Rolle Russlands und der Türkei in der Auseinandersetzung.
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