Wenn Staaten Maßnahmen gegen den Klimaschutz setzen, können Konzerne über Investitionsschutzabkommen die Staaten verklagen.

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Es geht um gewaltige Summen: Seit 2012 verklagt der schwedische Energiekonzern Vattenfall die Bundesrepublik Deutschland. Der Grund: Der Konzern fühlt sich benachteiligt. Nachdem der deutsche Bundestag 2011 eine neue Novelle des Atomgesetzes beschlossen hatte, verloren einige ältere Kraftwerke des Unternehmens die Genehmigung für den weiteren Betrieb. Jetzt will der Konzern rund fünf Milliarden Euro vom deutschen Staat als Entschädigung.

Für die Klage nutzt der Konzern ein sogenanntes Investor-Staat-Schiedsgericht. Dieses Verfahren ermöglicht ausländischen Investoren, gegen Staaten vorzugehen, wenn sie glauben, dass ihre nach internationalem öffentlichen Recht garantierten Rechte verletzt sind. Die Schiedsgerichte sind Teil von rund 3.000 zwischenstaatlichen Investitionsschutzabkommen. Bekannte Abkommen sind etwa Nafta, Ceta, TTIP, aber auch der sogenannte Energiecharta-Vertrag, auf den sich Vattenfall beruft. Über tausend solcher Verfahren mit einem Streitwert von 700 Milliarden Dollar hat es in der Vergangenheit bereits gegeben.

Ausländische Investitionen schützen

Ziel der Investitionsschutzabkommen, die seit den 1960er-Jahren abgeschlossen werden, ist zu verhindern, dass ausländische Investoren enteignet oder diskriminiert werden. Laut Experten gehen sie auf die Unabhängigkeit in den ehemaligen europäischen Kolonien zurück. Industriestaaten hätten ihre Unternehmen, die in den Ländern investierten, vor staatlicher Willkür schützen wollen. Mit den Schiedsgerichten haben ausländische Investoren einen eigenen Rechtsweg, gegen die Staaten vorzugehen.

Umweltorganisationen befürchten nun, dass die Investitionsschutzabkommen zu einer neuen Klagewelle inmitten der Corona-Pandemie führen könnten. Laut Pia Eberhardt, Forscherin und Handelsexpertin bei der in Brüssel ansässigen NGO Corporate Europe Observatory, seien neue Klagen nicht ausgeschlossen. Im Gespräch argumentiert sie, warum die Abkommen die Staaten Milliarden kosten und dabei auch den Klimaschutz gefährden könnten.

STANDARD: Ihre Organisation arbeitet hauptsächlich in Brüssel und will dort großen Unternehmen auf die Finger schauen. Wie viel Macht haben Konzerne und ihre Lobbygruppen in der EU?

Pia Eberhardt: Relativ viel. Es gibt eine gut aufgestellte Lobbyindustrie in Brüssel. Alle Konzerne haben ihre Büros dort, für jedes Produkt gibt es einen Industrieverband. Zusätzlich gibt es viele professionelle Lobbyfirmen, die von den Konzernen bezahlt werden. Es ist eine Übermacht gegenüber anderen gesellschaftlichen Interessen. Akteure mit den größten Büros und den meisten Mitarbeitern können natürlich die unzähligen Gesetzesentwürfe am besten verfolgen und beeinflussen.

STANDARD: Sie beschäftigen sich vorrangig mit sogenannten Investitionsschutzverfahren. Wie haben sich diese durch die aktuelle Corona-Pandemie verändert?

Eberhardt: Wir sehen im Moment noch keinen Anstieg von Klagen, aber dafür erschreckend viel Werbung von Anwaltskanzleien weltweit an die Unternehmenswelt, dieses Regime zu nutzen, um Staaten gegen Corona-Schutzmaßnahmen zu verklagen. Kanzleien verdienen sehr viel Geld mit diesen Klagen und wollen damit ihr eigenes Geschäftsfeld ausbauen. Denn viele Staaten ergreifen Maßnahmen, die die Gewinne von Unternehmen schmälern, woraufhin diese etwa auf Schadenersatz klagen können. Doch Staaten brauchen in der Pandemie den politischen Handlungsspielraum, um zu reagieren. Es braucht daher einen dringenden Aufschub für diese Klagen in diesen Zeiten.

Pia Eberhardt kritisiert im Gespräch, dass Investitionsschutzabkommen ausländische Investoren gegenüber inländischen Unternehmen bevorzugen.
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STANDARD: Welche Chancen erhoffen sich die Unternehmen dabei?

Eberhardt: Wie die Klagen ausgehen, ist die eine Sache. Aber es gibt bereits eine Reihe von Präzedenzfällen, die darauf hindeuten, dass es nicht unbedingt aussichtslos ist. Das meistverklagte Land der Welt bis heute ist Argentinien. Ein Großteil der Klagen gegen Argentinien hat eine Wurzel, nämlich den Umgang mit der argentinischen Finanzkrise Anfang des Jahrtausends. Argentinien hat viele der Klagen verloren, obwohl es sich in den Verfahren auf den staatlichen Notstand berufen hat. Aber die Möglichkeiten für Staaten, sich im Investitionsschutz auf solche Gestaltungsspielräume zu berufen, sind sehr gering. Kanzleien nutzen diesen Umstand. Ähnlich wie viele Staaten jetzt in der Corona-Situation vorgehen, hat auch Argentinien damals Maßnahmen ergriffen, um die finanzielle Lage in den Griff zu bekommen. Kanzleien sagen den Unternehmen, dass sie im nationalen Rahmen zwar wenig Chancen haben, da durchzukommen, vor dem Investitionsschutzgericht ihre Chancen aber sehr viel besser sind. Es werden sicher nicht alle Klagen gewonnen werden. Aber man kann auch nicht ausschließen, dass einige Investoren damit durchkommen und dann mit sehr viel Geld nach Hause gehen.

STANDARD: Investitionsschutzverfahren sollen Investoren vor politischen Übergriffen und Enteignungen schützen. Besteht nicht die Gefahr, dass Investoren ihr Geld einfach aus dem Land abziehen, sobald das Abkommen nicht mehr existiert?

Eberhardt: Zu dieser Frage gibt es eine langjährige Forschung. Führen Investitionsschutzabkommen tatsächlich dazu, dass Investoren mehr investieren? In unzähligen Studien wurde kein Nachweis für diese These gefunden. Das zeigt sich auch an einigen Beispielen, etwa bei Erneuerbaren: Brasilien hat noch nie einen Investitionsschutzvertrag mit Investor-State-Dispute-Settlement-Klagerechten (ISDS) abgeschlossen und bezieht trotzdem wahnsinnig viel Investition. Es geht vielmehr um Themen wie Marktgröße, Ausbildung der Arbeitskraft, Forschung und Entwicklung und Absatzmarkt. Investitionsschutzabkommen kommen da nicht bis ganz wenig vor. Es ist ein Trend der letzten Jahre, dass Länder Investitionsschutzabkommen aufkündigen, weil sie feststellen, dass es dabei keinen gesamtgesellschaftlichen Nutzen gibt. Die Aufhebung der Abkommen hat bisher nicht zu einem Einbrechen der Investitionen geführt. Es ist ein Scheinargument, das nicht belegt ist, aber trotzdem weiter benutzt wird.

STANDARD: Bei vielen Ländern stellt sich die Frage, wie unabhängig die Justiz im Land ist beziehungsweise welchen Einfluss die Politik auf sie nimmt: Ist die Sorge der Unternehmen nicht berechtigt, sich vor Übergriffen zu schützen?

Eberhardt: Es ist eine berechtigte Sorge. Aber genauso müssen heimische Investoren Risiken eingehen. Unternehmen können sich mit privaten und öffentlichen Versicherungen gegen diese Risiken versichern, etwa gegen politisches Risiko. Eigentlich ist es aber genau andersherum: Ausländische Investoren werden in den Gastländern nicht systematisch diskriminiert, sondern eher besser behandelt. Rechtsstaatliche Probleme gibt es überall, auch in der Europäischen Union. Aber die müssten doch für alle behoben werden. Es kann nicht sein, dass wenn ich rechtsstaatliche Probleme habe, diese nur für eine Gruppe von Akteuren behebe, noch dazu für die reichste. Das schafft eine Parallelgerichtsbarkeit für die Reichen. Ist das die Antwort auf rechtsstaatliche Probleme? Bis heute können diese Klagen geheim gehalten werden, und Schiedsrichter haben immer wieder Interessenkonflikte. Was hat denn das mit Rechtsstaatlichkeit zu tun? Das Rechtssystem sollte für alle zugänglich sein, transparent und unabhängig sein. Das genau ist die Schiedsgerichtsbarkeit nicht.

STANDARD: Sollte man die Verantwortung anstatt bei den Unternehmen und Anwaltskanzleien nicht eher bei den Staaten sehen, die diese Verträge überhaupt unterzeichnet haben?

Eberhardt: Klar. Die Staaten haben die Verträge unterzeichnet und sich damit selbst ein enges Korsett angelegt. Einige übernehmen nun die Verantwortung, indem sie die Verträge aufkündigen. Letztes Jahr war das zweite Jahr, in dem mehr Verträge gekündigt wurden als abgeschlossen. Fast alle EU-Mitgliedsstaaten – Österreich war nicht dabei – haben vor kurzem 130 Verträge gekündigt, die vom EuGH für illegal erklärt worden sind. Staaten haben Verantwortung, diese aufzukündigen, wenn sie feststellen, es ist nicht rechtmäßig oder nützt nicht dem Allgemeingut. Natürlich gibt es in Staaten nach wie vor handfeste Interessen, ihre Unternehmen im Ausland zu schützen. Aber das ist bei weitem nicht das einzige Interesse, das ein Staat vertreten soll.

STANDARD: Welche Rolle spielen die Abkommen beim Klimaschutz?

Eberhardt: Es besteht Konsens darüber, dass Öl, Gas und Kohle nicht mehr oder nur mehr wenig gefördert werden dürfen, wenn wir die Klimakrise in den Griff bekommen wollen. Das wird aber mit Investitionsschutzverträgen wie dem Energiecharta-Vertrag schwierig, weil dieses Öl, Gas und Kohle in der Regel schon jemandem gehört. Wenn ein Staat nun sagt, dass die Förderung aus Klimaschutzgründen aufhören muss, dann haben Konzerne mit dem Investitionsschutz ein sehr mächtiges Instrument in der Hand, dagegen vorzugehen. Denn der Investitionsschutz bietet sehr viel mehr Entschädigung, die wesentlich leichter zu bekommen ist. Das bedeutet, dass der Klimaschutz teurer wird. Und es bietet den Staaten Anreiz, nicht schnell genug gegen den Klimawandel vorzugehen. Sehr viele Klagen weltweit sind von Öl- und Gasunternehmen angestrengt worden. Etwa in den Niederlanden, wo die Regierung Kohle erst ab 2030 nicht mehr verstromen will. Laut Umweltbewegungen kommt der Ausstieg deshalb so spät, weil die Regierung vorher schon Angst hatte, verklagt zu werden. Erst führt der Energiecharta-Vertrag dazu, dass Klimaschutz zu spät kommt, und dann, dass er den Steuerzahler auch noch extrem teuer kommt. Angesichts der drohenden Konsequenzen des Klimawandels ist das ein völlig absurdes System. Leider wird die Debatte immer erst dann geführt, nachdem die große skandalöse Klage gekommen ist.

STANDARD: Aber in der Vergangenheit haben nicht nur fossile Unternehmen, sondern auch viele erneuerbare Industrien Investitionsschutzabkommen für Klagen genutzt. Wäre eine Abschaffung da nicht kontraproduktiv?

Eberhardt: Tatsächlich gibt es viele solcher Erneuerbaren-Klagen gegen Länder in der EU. Der Energiecharta-Vertrag schützt eben nicht nur fossile Energieträger. Diese Klagen kann man im Detail auch sehr kritisch sehen. Zum Beispiel in Spanien: Sehr viele Investoren, die den Staat nach Rücknahme der Förderungen für Erneuerbare klagen, haben sehr spät in Spanien investiert – zu einem Moment, wo klar war, dass die Subventionen zurückgenommen werden. Das waren hochriskante Investitionen, mit denen vielleicht sogar auf eine spätere Klage spekuliert wurde. Der wesentliche Punkt ist aber: Der Energiecharta-Vertrag schützt auch fossile Energieträger. Und das ist, wo auch in den nächsten Jahren weiter investiert wird. Der Vertrag ist wie eine Art kostenlose Versicherung für die Ölindustrie. Trotz Klimawandels wird ihnen nichts passieren, und selbst wenn ihnen etwas passiert, können sie sehr viel Geld dafür bekommen. Deshalb ist die Kritik an dem Vertrag weiter berechtigt.

STANDARD: Wird es zu Veränderungen beim Vertrag kommen?

Eberhardt: Die politische Diskussion geht dahin, dass man sagt, der Vertrag darf keine fossilen Energieträger mehr schützen. Wahrscheinlich wird sich diese Forderung in den Verhandlungen nicht durchsetzen, weil Länder wie Japan und andere bereits gesagt haben, dass sie keinen Reformbedarf sehen. Dann muss sich die EU und auch Österreich fragen: Können wir weiterhin Mitglied dieses Vertrags sein? Denn dieser Vertrag ist die Antithese zum Pariser Klimaabkommen. Der Ausstieg ist nicht schwierig, ein einfacher Brief genügt. Italien hat es bereits gemacht. Transparenz reicht als Reformmaßnahme am Ende bei weitem nicht. (Jakob Pallinger, 15.10.2020)