Julia Garner als junge Frau im Hamsterrad einer Produktionsfirma – mit deutlichen Anspielungen an den Fall Weinstein.

Foto: Polyfilm

Das Kino lebt nicht nur von den Bildern auf der Leinwand, sondern auch von unserer Imagination. Man kennt das aus dem Horrorfilm: Sobald das Monster gezeigt wird, das zuvor in unserem Kopf herumspukte, ist die Spannung dahin. Im Wechselspiel zwischen dem Zeigen und dem Nichtzeigen definiert sich die kinematografische Kunst. Ein Meister der Leerstelle ist der österreichische Regisseur Michael Haneke, sein französischer Kollege Gaspar Noé hingegen lotet immer wieder die Grenzen des Zeigbaren aus. Beides kann schwer zu ertragen sein.

Auf dieser Skala der Extreme ist Kitty Green eindeutig näher an dem Österreicher dran. Mehr noch: The Assistant, der erste Langfilm der australischen Regisseurin, macht aus einer filmübergreifenden Leerstelle einen rund 90-minütigen, dichten Film. Das ist umso beachtlicher, als The Assistant die Spannung aus einem Tag im Büro einer Filmproduktionsfirma generiert.

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Man fragt sich zunächst, was dieses Spiel soll, das Green treibt. Minutiös zeigt sie den Alltag der Assistentin Jane (Julia Garner): ihren Weg durch die morgendliche Dämmerung New Yorks, durch die sie in einer Limousine manövriert wird, ihre Ankunft im Büro, in dem sie durch die Räume schleicht, die flackernden Neonröhren und die Rechner der Belegschaft einschaltet, Kaffee kocht, aufräumt, eine Couch schrubbt.

Sie teilt sich ein Büro mit zwei Kollegen und regelt den Tagesablauf ihres Chefs: Hotelbuchungen, Terminvereinbarungen, Kreditkartenabrechnungen, Mittagessen besorgen oder dessen Kinder bespaßen.

Subtile Studie

Mit strengen Bildern (Kamera: Michael Latham) und bedrohlicher Ruhe zeigt Green das Treiben. Was mit einem gefundenen Frauenohrring seinen Anfang nimmt, entpuppt sich Stück für Stück als subtile Studie über strukturell geduldeten Machtmissbrauch. Eine Studie in Andeutungen: Die Couch im Büro des Medienmoguls, auf die man sich bloß nicht setzen solle, wie die Anzug tragenden Kollegen vor einem Meeting witzeln, Erzählungen über dessen Tête-à-têtes in Cannes – oder war es Venedig? Und schließlich die neue Assistentin, die aus einem Kaff eingeflogen und in einem teuren Hotel untergebracht wird. Sie ist jung, hübsch und unterqualifiziert.

Greens Debütfilm ist ein kluges Lehrstück über die Kraft der Imagination. Obwohl wir Janes Boss, das Monster, niemals zu Gesicht bekommen, beherrscht er jede Szene des Kammerspiels. Im Kern hat Green einen leisen Horrorfilm gedreht, dessen Bezüge zu Harvey Weinstein auf der Hand liegen. Nach ersten Vorwürfen Ende 2017 wurde der Filmproduzent Anfang dieses Jahres wegen Vergewaltigung zu 23 Jahren Haft verurteilt. The Assistant ist der erste Film zum Weinstein-Skandal, ein waschechter #MeToo-Film, der sich mit einem eigenen Zugang von den Debatten emanzipiert.

Kaputtes System

Durch die Augen von Jane fängt der Film eine von Grund auf vergiftete Atmosphäre ein. Da ist der Druck des Bosses, der Jane sagt, dass er sie zu etwas Großem machen will und sie gleichzeitig per E-Mail zu Kreuze kriechen lässt, wenn ihm etwas nicht passt. Oder ein Personalleiter, der ihre Vermutungen in einer bedrückenden und vielschichtigen Szene als Neid auf die neue Kollegin kleinredet.

Julia Garner spielt die junge Frau im Hamsterrad mit einnehmender Zurückhaltung. In ihrem Gesicht spiegeln sich Ekel und Ehrgeiz gleichermaßen wider. Und auch hier begeht Green nicht den Fehler, zu konkret zu werden. Karriere oder Idealismus? "Mach dir keine Sorgen: Sie hat mehr davon als er", sagt eine Produzentin, nachdem sie eine junge Schauspielerin im Chefbüro zurückgelassen hat. Das System, von dem The Assistant erzählt, ist so durch und kaputt, dass es wehtut. (Jens Balkenborg, 16.10.2020)