Im Gastkommentar plädiert der Ökonom Kurt Bayer, auch die gesellschaftlichen Auswirkungen ökonomischer Vorgänge zu betrachten.

"Freihandel" fördert Plantagenwirtschaft und führt zu Umweltschäden. Im Bild eine gerodete Fläche in Mato Grosso, Brasilien.
Foto: AFP / Florian Plaucheur

Die Wirtschaftsuni-Professoren Harald Badinger und Harald Oberhofer machen es schon wieder (siehe "Die Losung ‚Austria first‘ und ihre Konsequenzen"): Sie sehen ökonomische Probleme – in diesem Fall den EU-Mercosur-Handelsdeal – in verkürzter, neoklassischer Manier. Die Ablehnung dieses Deals wird in Trump’scher Art und Weise ("Austria first") als schädlich verunglimpft, weil durch geringeren Handel mit Agrarprodukten die Fleischpreise für österreichische Konsumenten steigen und die Auswahlmöglichkeiten fallen würden und weil in der Industrie Arbeitsplätze verlorengehen würden, da Marktchancen in Lateinamerika reduziert würden. Und: Ohne Mercosur-Abkommen würde "auch den Menschen in Südamerika ökonomisches Aufholpotenzial (...) vorenthalten werden". Der Professoren Mantra: "Die globale Wirtschaftsentwicklung kann durch freien Handel gefördert werden und die weltweite Ungleichheit damit effektiv reduziert werden." So weit das neoklassische Lehrbuchwissen.

Riesige Umweltschäden

Zu den Tatsachen: Die London School of Economics schätzt (auch neoklassisch) den BIP-Vorteil für die Europäische Union durch das Abkommen auf jährlich 0,1 Prozent des BIP und den Rückgang für Lateinamerika auf minus 0,1 Prozent. Die Tatsache, dass der EU-Lateinamerika-Handel die Umwelt massiv durch Transportabgase beeinträchtigt, geht in die Modelle, auch in der Argumentation der beiden Professoren, nicht ein (Achtung: Klimakrise!).

Dass Nahrungsmittelexporte von Industrie- in weniger entwickelte Länder dort vielfach zur Verdrängung der heimischen Produktion, zu Landflucht und Slumbildung geführt haben, wird nicht erwähnt; dass die durch "Freihandel" geförderte Plantagenwirtschaft in weniger entwickelten Ländern zu riesigen Umweltschäden (Rodungen in Brasilien als Beispiel) und Verdrängung der Subsistenz-Landwirtschaft geführt haben, spielt offenbar keine Rolle; dass die Erhaltung der österreichischen bäuerlichen Landwirtschaft zur Erhaltung der Kulturlandschaft und regionaler Diversität beiträgt, offenbar auch nicht. Die Wirtschaft besteht nur aus Haushalten und Unternehmen, eventuell noch aus Arbeitnehmern: Umwelt, Klima, Biodiversität, Kultur, Landschaft – die gibt es nicht in dieser Sichtweise.

Andere Ansätze

Der in der Überschrift beklagte "Jammer" bezieht sich auf die Tatsache, dass diese Art der verkürzten, neoklassischen Ökonomiesichtweise nicht nur den Leserinnen und Lesern des STANDARD vermittelt, sondern auch den Studierenden der Wirtschaftsuniversität beigebracht wird, anstatt ihnen ein breiteres Bild der gesellschaftlichen Auswirkungen ökonomischer Vorgänge zu bieten. Es ist Zeit, auch alternativen und realistischeren Ansätzen Raum zu verschaffen: nicht nur in Kommentaren, sondern auch in der Lehre. (Kurt Bayer, 16.10.2020)