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Demonstration gegen die Sars-Polizeigewalt in Lagos.

Foto: Reuters / Temilade Adekaja

Man nennt sie die "Yahoo Boys": junge Nigerianer, die ihr Geld in der lebhaften IT-Szene des bevölkerungsreichsten afrikanischen Staates verdienen. Schon von weitem sind sie an ihren Piercings oder Rastalocken zu erkennen: Viele von ihnen sind wie ihre Vorbilder in New York oder London tätowiert und tragen löchrige Jeans. Zum Verhängnis wird ihnen, dass sie meist ungewöhnlich gutes Geld verdienen: Oft sind sie mit dem eigenen Fahrzeug oder zumindest einer Laptoptasche unterwegs. Damit erregen sie die Aufmerksamkeit der Polizei, vor allem der Beamten der "Special Anti-Robbery-Squad" (Sars). Das ist eine 1992 gegründete Spezialeinheit, die sich in dem westafrikanischen Staat zu einer berüchtigten Institution entwickelt hat.

Die stets klammen Cowboys wissen, dass sie mit den Yahoo Boys ihr Gehalt auffrischen können: Sie werfen ihnen ein angebliches Delikt vor, verlangen horrende Bußgelder und wenden Gewalt an, wenn einer der Techno-Yuppies nicht bezahlen will. Anfang dieses Monats erschossen sie einen jungen Nigerianer in der Hafenmetropole Lagos, den sie zuvor aus einem Hotel gezogen und auf die Straße geworfen hatten. Die Szene wurde – wie George Floyds Tod in Minneapolis – mit einem Handy gefilmt. Das Video machte in den sozialen Netzwerken Furore, auf Twitter begann unter dem Hashtag ENDSARS eine Lawine zu rollen. In den vergangenen dreieinhalb Jahren seien mindestens 82 junge Nigerianer von Sars-Beamten getötet worden, gab Amnesty International bekannt: Der Menschenrechtsorganisation lägen Beweise für Folterungen, Erpressung und sogar Hinrichtungen vor. Und kein einziger der Sars-Schießgesellen sei bisher zur Verantwortung gezogen worden.

Dezentrale Proteste

Die Reaktion der Yahoo Boys blieb im jüngsten Fall nicht auf den virtuellen Raum beschränkt: Erstmals gingen in den vergangenen zehn Tagen Tausende von jungen Menschen in zahlreichen Großstädten des Landes auf die Straße. Sie forderten die Auflösung der Spezialeinheit und blockierten – etwa in Lagos – die Verkehrsschlagadern.

Derartige Proteste sind in Nigeria ungewöhnlich: Zum letzten Mal kam es vor acht Jahren zu einem Bürgeraufstand, als die Regierung die Subvention für Kraftstoff aufhob. Damals scheiterte die Bevölkerung ausgerechnet an den Gewerkschaften, die sich auf einen Deal mit der Regierung einließen. Den Yahoo Boys kann das nicht passieren: Sie haben keine Führung, ihre Aktionen werden online arrangiert, sie verfügen auch für lange Proteste über die nötige finanzielle Puste.

Der Präsident wird nervös

Zunächst ging die Polizei mit den Demonstranten auf ihre Weise um, setzte Wasserwerfer ein, verhaftete scharenweise Demonstrierende und brachten außer zwei Kundgebungsteilnehmern auch einen Zaungast um. Noch beflügelt von der weltweiten Black-Lives-Matter-Bewegung, nahmen daraufhin auch Diaspora-Nigerianer in Großbritannien und den USA die Empörung der Yahoo Boys auf: Aus London meldete sich der Afropop-Sänger Wizkid zu Wort, selbst der deutsch-türkische Profifußballer Mesut Özil stellte sich hinter die Yahoo Boys. Als sich schließlich auch noch die beiden Rapper Runtown und Falz sowie der US-nigerianische Weltstar Davido für die Sache der Demonstranten starkmachten, wurde der 77-jährige Präsident des Landes, Muhammadu Buhari, nervös: Anfang dieser Woche ordnete er seinen Polizeichef Mohammed Adamu an, die umstrittene Einheit aufzulösen.

Damit gaben sich die Demonstranten allerdings noch nicht zufrieden. Die Opfer der polizeilichen Willkür verweisen auf den Umstand, dass die Auflösung der Spezialeinheit bereits dreimal zuvor – im Dezember 2017, im August 2018 sowie im Jänner 2019 – versprochen wurde: Jedes Mal lebte die umstrittene Truppe allerdings weiter. Dieses Mal solle Sars nach internationalem Vorbild in Swat (Special Weapons and Tactics Team) umbenannt und seine Beamten einer zusätzlichen Ausbildung unterzogen werden, versprach Adamu: Außerdem würden alle verhafteten Demonstranten freigelassen und eine unabhängige Kommission eingesetzt, die die Übergriffe der Cowboys aufklären soll. Auch mit diesen Zugeständnissen wollen sich die Yahoo Boys noch nicht zufriedengeben: Sie setzen ihre Protestwelle fort und wandelten ihren Hashtag ENDSARS lediglich in ENDSWAT um. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 16.10.2020)