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Jacinda Ardern setzt auf Durchgreifen mit Nettigkeit. Von den Wählern wird dies honoriert: Neuseelands Regierungschefin gilt bei den Wahlen am Samstag als unschlagbar.

Foto: Reuters / Fiona Goodall

Jacinda Ardern sieht müde aus an diesem Abend. Im grünen Sweatshirt, ungeschminkt und ziemlich kaputt, meldet sie sich über Facebook. Sie habe eben ihre Tochter ins Bett gebracht, erzählt sie Millionen Zuschauern, "und das ist eben nicht kompatibel mit einem formellen Geschäftsanzug". Zwei Sätze später verdonnert sie die Nation zu einigen der frühesten und härtesten Corona-Maßnahmen auf dem Planeten. Jacinda Ardern schließt Neuseeland ab: geschlossene Grenzen, Ausgangssperre. Die fünf Millionen Mitglieder von "Team New Zealand" müssten nun zusammenstehen. Das war im März. Die Abschottung zeigt Erfolg. Vergangene Woche, nach einem kurzen Aufflammen des Virus, hatte die Nation die Pandemie im Griff.

Eine Frau im Schmuddelpulli, die zwischen Babystillen und Windelwechseln mit Donald Trump über Wirtschaftsbeziehungen verhandelt. Eine amerikanische Zeitschrift beschrieb die 40-jährige Politikerin als "möglicherweise effektivste Führungskraft auf dem Planeten". Managementschulen befassen sich mit dem Phänomen. Und tausende junge Frauen rund um den Globus sehen in Jacinda Ardern die Zukunft – ihre eigene. Als Mitglieder einer neuen Generation von Führungskräften, für die Empathie so wichtig ist wie Entschlusskraft und Durchsetzungswillen.

Antithese zu Trump

Arderns Kommunikationsstil ist das Gegenteil von demjenigen Trumps: Hoffnung statt Angst, Vereinigen statt Trennen, Mitgefühl statt Ablehnung. Vor allem ist die junge Frau "echt". Für Helen Clark, Neuseelands Premierministerin zwischen 1999 und 2008, ist es das, was Ardern so beliebt macht: "Sie predigt nicht zu den Leuten, sondern sie steht ihnen bei."

2017 kam sie fast per Zufall an die Macht, nachdem klar geworden war, dass Labour unter ihrem uncharismatischen Chef Andrew Little weitere drei Jahre in Opposition zur Regierung der konservativen Nationalpartei verbringen würde. Die junge Ardern versprach einen Wahlkampf von "schonungsloser Positivität". Mit Erfolg: Wochen später fand sie sich in zähen, aber erfolgreichen Koalitionsverhandlungen mit der nationalistischen Partei New Zealand First und den Grünen. Zum Erstaunen vieler hat die Zweckehe gehalten.

Im März 2019 erschießt ein australischer Rassist in zwei Moscheen in der neuseeländischen Stadt Christchurch 51 Muslime. Es ist ein Blutbad von historischem Ausmaß für das sonst friedliche Land. Zum ersten Mal wird Ardern der breiten Weltöffentlichkeit bekannt. Als Frau im Hidschab: Statt scharfes Vorgehen zu markieren, geht sie mit muslimischem Kopftuch zum Tatort und umarmt die Angehörigen der Opfer.

Ihre Gegner haben rasch lernen müssen, den positiven Kommunikationsstil der Premierministerin nicht als Zeichen von Schwäche zu interpretieren. Als Ardern mitten in einem Fernsehinterview im Parlamentsgebäude von einem heftigen Erdbeben unterbrochen wurde, reagierte sie gelassen: "Es schüttelt ziemlich hier. Das Parlament bewegt sich etwas mehr als anderswo."

Kein Wohnbesitz für Ausländer

Die Unnachgiebigkeit, mit der Ardern die Anti-Corona-Maßnahmen umsetzte, ist nur das jüngste Beispiel für ihr Durchsetzungsvermögen. Schon kurz nach den Wahlen 2017 hatte Ardern Pfosten gesetzt. "Die neuseeländische Wirtschaft muss wieder Neuseeländern dienen", so ihre Antwort auf Jahre unter einer von neoliberaler Ideologie getriebenen konservativen Regierung. Sie kippte deren Pläne für eine Steuerreduktion. Priorität seien jetzt Gesundheitsversorgung und Ausbildung. Kaufstopps für Ausländer sollten einen drastischen Mangel an Wohnraum lindern. Mit einem höheren Grundgehalt und einem Unterstützungspaket für Familien will ihre Regierung die Armut reduzieren.

Vor allem ihr Ziel, dem zerstörerischen Umgang mit der Natur durch die mächtige Landwirtschaft und Milchindustrie ein Ende zu setzen, bringt alteingesessene Interessen und Privilegien ins Wanken. Doch Ardern bleibt bei ihren Prinzipien. Im letzten Jahr veröffentlichte sie den ersten Haushaltsplan der westlichen Welt, der das Wohlbefinden der Bevölkerung als oberstes Ziel hat, nicht primär wirtschaftliches Wachstum.

Nett sein und gleichzeitig entschieden durchgreifen kommt bei den Wählern offenbar an. Umfragen zeigen, dass die Labour-Partei nach der Corona-Krise wieder ganz oben steht. Arderns Widersacherin ist Oppositionsführerin und Nationalpartei-Chefin Judith Collins. In einer Fernsehdebatte lieferten sich die beiden Frauen jüngst einen eher milden Kampf um die Gunst der Wähler. Dabei zeigte sich Collins zwar führungsstark, hatte aber bezüglich Charisma keine Chance gegen Ardern.

Einige Kommentatoren glauben inzwischen, Ardern sei bei der Wahl am kommenden Samstag unschlagbar. Nicht dass sie zerbrechen würde, wenn sie den Job verlöre. "Wir sind alle ersetzbar", meinte Ardern. Sie hätte dann mehr Zeit für ihre Tochter und ihren Partner. Im Moment wechselt meistens er Windeln. (Urs Wälterlin aus Canberra, 16.10.2020)