Foto: Imago/Cavan

Könnten Meeresbewohner unter Wasser Korken knallen lassen, würden sie es zum nächsten Jahreswechsel tun: Am 1. Jänner 2021 beginnt die von den Vereinten Nationen ausgerufene Dekade der Ozeane für nachhaltige Entwicklung. Das Ziel der Initiative ist es, Anstrengungen zu fördern, die der Gesundheit der Weltmeere dienen. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollen in technische und soziale Innovationen übergeführt werden, um eine nachhaltige Entwicklung für die Ozeane zu ermöglichen.

Für Menschen, die fern der Weltmeere leben, ist mitunter nicht gleich ersichtlich, warum ausgerechnet die Ozeane einer eigenen UN-Dekade bedürfen. Doch auch die Bevölkerung von Binnenländern ist in vielfältiger Weise von den Meeren abhängig: Ein Drittel aller bisherigen CO2-Emissionen wurden von den Ozeanen aufgenommen. Ohne diese natürlichen Kohlenstoffsenken wäre die Klimakrise noch viel dramatischer, als sie ohnehin schon ist. Aktuell arbeiten Forscher daran, wie die Weltmeere noch mehr Kohlenstoffdioxid aufnehmen könnten.

Daten zusammenführen

In der UN-Dekade für die Ozeane sollen diese auch einen digitalen Doppelgänger bekommen. Das Projekt nennt sich Digital Twin Ocean und ist auch Teil des Green Deals der EU-Kommission. Die Idee dahinter ist folgende: Tausende Tauchroboter sind in den Weltmeeren unterwegs und sammeln etwa Daten zu Temperatur und Salzgehalt. Zusätzlich gibt es zahlreiche Forschungsschiffe, die Beobachtungen vornehmen, und natürlich Messdaten von Satelliten.

Ziel von Digital Twin Ocean ist es, all diese Daten zusammenzuführen und damit einen digitalen Zwilling des Ozeans zu erstellen. Pilotprojekte dazu gibt es bereits, laut Martin Visbeck, dem Leiter der Physikalischen Ozeanografie am Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, der an Digital Twin Ocean beteiligt ist, soll der digitale Ozeanzwilling in den nächsten fünf Jahren Gestalt annehmen.

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Digitaler Meeresurlaub

In der zweiten Hälfte der Ozeandekade könnte der digitale Meerurlaub also Realität sein – eine Aussicht, die speziell für Bewohner von Binnenländern attraktiv ist. "Man könnte sich dann eine 3D-Brille aufsetzen und durch den digitalen Ozean tauchen", schwärmt Visbeck. Doch bei dem Projekt geht es um weit mehr als um eine digitale Spielerei.

Auch für die Klimaforschung und die Klimapolitik könnte Digital Twin Ocean zu einem wichtigen Werkzeug avancieren. Die Ergebnisse der Klimaforschung könnten dadurch greifbarer gemacht werden. "Man könnte sich ansehen, wie ein bestimmtes Riff in 30 Jahren aussehen wird, wenn wir den Green Deal der EU erreichen oder wenn wir der Empfehlung von US-Präsident Donald Trump folgen", sagt Visbeck.

Modelle testen

Den Forschern würde die Zusammenführung der Daten eine einmalige Möglichkeit bieten, Modelle zu testen und künftige Entwicklungen der Weltmeere mit noch größerer Genauigkeit zu prognostizieren.

Schon lange befindet sich die Klimaforschung in der paradoxen Situation, dass zwar detailliertes Wissen über den Zustand der Erde vorliegt und die erforderlichen Maßnahmen zum Abwenden der Klimakrise sonnenklar sind, die Handlungen aber ausbleiben. Projekte wie Digital Twin Ocean können einen Beitrag dazu leisten, den Druck zu erhöhen, dass vorhandenes Wissen auch praktisch umgesetzt wird.

Digitales Meer, digitale Erde

In diesem Kontext ist auch ein anderes Projekt zu sehen, dass Digital Twin Ocean in einen noch größeren Kontext setzt: Die europäische Weltraumorganisation Esa will gar einen digitalen Zwilling der Erde erschaffen. Laut Esa-Chef Jan Wörner könnten von so einer Simulation Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt profitieren.

Dass die Ideen zu einem digitalen Ebenbild der Erde und der Ozeane ausgerechnet im Jahr 2020, dem Jahr der Corona-Pandemie, an Kontur gewinnen, ist kein Zufall. Weniger, weil Meeresurlaube und Weltreisen in diesem Jahr nur eingeschränkt möglich sind, sondern vor allem, weil die Pandemie dem Zusammenspiel von Wissenschaft und Gesellschaft neue Brisanz verliehen hat. Wissenschafter hätten schon lange vor einer Pandemie durch ein neuartiges Virus gewarnt, nun sei aber klar, dass die Welt trotzdem nicht vorbereitet war, betont Josef Aschbacher, Leiter des Esa-Erdbeobachtungsprogramms und künftiger Esa-Generaldirektor: "Wir sollten daher von der Corona-Krise lernen, um besser auf die Auswirkungen des Klimawandels vorbereitet zu sein." (Tanja Traxler, 9.1.2021)