Dank der großen Vielfalt an Ökosystemen gibt es in Österreich so viele Arten wie in keinem anderen Land in Mitteleuropa. Im Bild: Sonnenaufgang mit Nebelschwaden über dem Turnersee in den Karawanken in Kärnten.
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Österreich besitzt, gemessen an seiner Größe, eine äußerst hohe Artenvielfalt. Doch durch Landwirtschaft und Flächenverbrauch gerät der Artenreichtum hierzulande zunehmend in Bedrängnis. Ökologen um Franz Essl haben daher den Biodiversitätsrat gegründet und die Ausrufung des nationalen Artennotstands gefordert.

STANDARD: Wie steht es um die Artenvielfalt in Österreich?

Essl: Österreich ist zwar klein an Fläche, aber es ist das artenreichste Land Mitteleuropas, auch artenreicher als große Nachbarstaaten wie Deutschland. Hierzulande finden Arten sehr unterschiedliche Lebensräume vor: die Alpen, aber auch Südkärnten oder die pannonische Ebene im Osten. Diese außergewöhnliche Vielfalt ist in den vergangenen Jahrzehnten massiv unter Druck gekommen.

Franz Essl ist Ökologe an der Universität Wien und einer der Sprecher des österreichischen Biodiversitätsrats.
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STANDARD: Woran liegt das?

Essl: Es gibt nicht eine alleinige Ursache, die Land- und Forstwirtschaft spielt aber eine wesentliche Rolle. Der zweite große Faktor ist ein extrem hoher Flächenverbrauch für Siedlungen und Verkehrsinfrastruktur: Österreich verbaut täglich Flächen in der Größe von 20 Fußballfeldern. Weiters sind 70 Prozent der Flüsse gestaut. All diese Faktoren werden künftig noch durch den Klimawandel überlagert.

STANDARD: Welche Zusammenhänge gibt es zwischen Artenverlust und Klimawandel?

Essl: Klimaschutz und Biodiversitätsschutz sind siamesische Zwillinge: Die Klimaziele können nur erreicht werden, wenn auch der Biodiversitätsverlust gestoppt wird. Etwa ein Viertel aller Emissionen kommen nicht aus Schornsteinen oder Auspuffen, sondern aus der Zerstörung von Lebensräumen, etwa indem CO2 durch Rodung von Wäldern freigesetzt wird. Derzeit ist der Klimawandel nicht der maßgeblichste Faktor für den Artenverlust, doch er wird künftig stark auf die Lebensräume einwirken. Jeder Waldviertler Bauer weiß, dass die Fichtenbestände in tiefen Lagen schon heute durch den Klimawandel einem starken Stress ausgesetzt sind. Ein anderes Beispiel: In Wien ist die Begrünung eine der Antworten, um den Sommer in der Stadt erträglicher zu gestalten. Doch aufgrund der trockenen Hitzesommer sterben viele der traditionellen Baumarten am Gürtel und in innerstädtischen Grünanlagen wie Kastanie, Ahorn oder Linden ab. Die Stadt Wien pflanzt nun südliche Arten.

Ein Videostatement von Franz Essl. Credit: Universität Wien
Universität Wien

STANDARD: Welche Auswirkungen hat Artensterben für die Menschen?

Essl: Stabile Ökosysteme sind der Rahmen, in den unsere Gesellschaft eingebettet, ist. Wenn wir sie zerstören, setzen wir dieses stabile Fundament aufs Spiel. Die Nahrungsmittelproduktion ist von gesunden Böden abhängig. Intakte Ökosysteme schützen uns auch vor Naturgefahren wie Hochwasser oder Muren.

STANDARD: In der Klimaforschung sind in den vergangenen Jahren sogenannte Kippelemente stärker in den Fokus gerückt, durch die es zu unkontrollierten und selbstverstärkenden Effekten kommt. Gibt es solche Kippelemente auch bei der Biodiversität?

Essl: In der Biodiversitätsforschung sind solche Kipppunkte bisher nicht identifiziert worden, was aus meiner Sicht damit zu tun hat, dass Ökosysteme meist aus hunderten oder tausenden Arten bestehen. Die hochkomplexen Zusammenhänge lassen sich wahrscheinlich nie gut genug verstehen, um Kipppunkte festzustellen. Man kann aber eine Faustregel aus der Forschung ableiten: Je stärker die Artenvielfalt zurückgeht, desto größer sind die Risiken. Zudem treten viele Effekte zeitlich verzögert auf. Eine Art stirbt nicht von heute auf morgen aus. Daher ist rasches Handeln dringend nötig, denn die vollen langfristigen Folgen des Artenverlusts lassen sich heute noch gar nicht erkennen.

STANDARD: Welche Maßnahmen sind notwendig?

Essl: Komplexe Phänomene wie der Klimawandel oder Biodiversitätsverlust haben viele Ursachen, und es gibt dafür nicht eine einfache Lösung. Klar ist, dass es einen massiven Wechsel in den politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen braucht. Die Bewahrung und nachhaltige Nutzung von Natur muss sich auch ökonomisch lohnen. Kurzfristige Profitmaximierung darf nicht dazu führen, dass die langfristige Zukunft unserer Gesellschaft aufs Spiel gesetzt wird. Das muss sich ökonomisch niederschlagen, etwa durch Steuern auf CO2 sowie auf Natur- und Flächenverbrauch.

STANDARD: Sie sind Mitglied des Leitungsteams des Biodiversitätsrats, der 2019 gegründet wurde. Wie lautet Ihr Fazit nach einem Jahr?

Essl: Unsere Forderungen umfassen wesentliche Punkte, die in Österreich umzusetzen sind, um bis 2030 die Trendwende zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu erreichen. Aus unserer Sicht sind im vergangenen Jahr bereits erste positive Schritte gesetzt worden. Aber ob das Ziel einer Trendwende bis 2030 erreicht wird, hängt davon ab, ob die positiven Schritte auch eine ambitionierte Umsetzung erfahren. Die nationale Biodiversitätsstrategie spielt dabei eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Entwurf stehen viele richtige und wichtige Punkte: etwa die Erhöhung geschützter Flächen in Österreich auf 30 Prozent bis 2030 oder die Halbierung des Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft bis 2030. Entscheidend ist: Werden diese Ziele verbindlich sein? Das ist noch nicht geklärt. Man kann solche Ziele nur erreichen, wenn man entsprechende Mittel bereitstellt. Es braucht eine nationale Biodiversitätsmilliarde. Zudem ist ein Biodiversitätsgesetz notwendig. Derzeit gibt es neun Naturschutzgesetze, jeweils auf Bundesländerebene. Auf Bundesebene gibt es wenige gesetzliche Möglichkeiten, um Natur- und Biodiversitätsschutz umzusetzen.

STANDARD: Bleibt noch die Frage: Was kann denn jeder Einzelne tun, um den Artenverlust aufzuhalten?

Essl: Jeder ist für sein Handeln verantwortlich und hat Handlungsmöglichkeiten. Eine wichtige Rolle spielt, welche Nahrungsmittel man einkauft. Natürlich lässt sich nicht immer nachvollziehen, wie sehr ein Produkt der Artenvielfalt nützt. Wenn man nachhaltig und biologisch erzeugte Nahrungsmittel lokal kauft, zum Beispiel direkt beim Biobauern, ist es klar, dass das besser für die Biodiversität ist als ein Billigprodukt aus Massenproduktion. Wenn man einen Garten besitzt, spielt die Gestaltung eine wichtige Rolle. Gärten sind in Summe ein großer Lebensraum in Österreich, häufig sind sie artenreicher als die ausgeräumte Kulturlandschaft. Für einen artenreichen Garten ist entscheidend: Lasse ich irgendwo ein Stück Blumenwiese stehen? Habe ich einen naturnahen Teich? Setze ich heimische Gehölze statt Thujenhecken? Weiters kann man sich bei Organisationen engagieren, die sich für einen Systemwandel einsetzen – durch Spenden oder aktive Beteiligung. Individuelle Beiträge sind entscheidend, denn sie erzeugen Druck. Natürlich spielt eine Rolle, welchen politischen Repräsentanten man seine Stimme gibt. Mehr als 80 Prozent der Österreicher sagen in Umfragen, dass ihnen Klima und intakte Natur wichtig sind – so eine hohe Zustimmung gibt es bei kaum einem anderen Thema. (Tanja Traxler, 21. 10. 2020)