Anna Bers versammelt auf 900 Seiten deutschsprachige Lyrik von Frauen und über Frauen aus zehn Jahrhunderten.

Foto: Anna Bers

In Auswertungen der am stärksten kanonisierten deutschsprachigen Gedichte finden sich die Texte von Frauen durch die Bank erst weit hinten auf den Plätzen – nach zig Gedichten Goethes. Im neuen Band Frauen | Lyrik versammelt Germanistin Anna Bers auf 900 Seiten deutschsprachige Lyrik von Frauen und über Frauen aus zehn Jahrhunderten. Sie will damit "die Literaturgeschichte breiter darstellen".

STANDARD: Woher rührt die ungleiche Abbildung von Frauen und Männern im Kanon?

Bers: Was wir heute an Lyrik für bewahrenswert halten, entspricht im Grunde immer noch Kriterien der Goethezeit: lyrische Lyrik in der Tradition von Erlebnis und Subjekt. Genau da waren Frauen aber lange nicht vorgesehen, weil sie in der Subjektkonzeption früherer Zeit keine Genies sein konnten. Wenn sie also lyrisch schrieben, konnten sie nur Epigoninnen sein, aber nicht selbst erfinden. Wirklich offen standen ihnen nur wenig prestigeträchtige Genres wie erzieherische und religiöse Lyrik, Kinderlyrik oder Lieder.

STANDARD: Die tauchen seltener in Anthologien auf. Es gab also mehr Lyrik von Frauen, als es scheint, wenn man Literaturgeschichten aufschlägt ...

Bers: Ja, denn was kanonisiert wird, deckt sich nicht immer mit dem, was zu seiner Zeit tatsächlich am meisten geschrieben und gelesen wurde.

STANDARD: Es geht Ihnen nicht nur um Lyrik von Frauen, sondern auch um Lyrik von Männern über Frauen ...

Bers: In Romanen und Dramen tun sich männliche Autoren weniger schwer damit, vielschichtige Frauenfiguren zu entwerfen. In der Lyrik fehlen die aber fast vollkommen. Wenn Männer Frauen in Gedichten zu Wort kommen lassen, finden sich da nur Typen wie Spinnerinnen oder Mägde. Dichter haben es jahrhundertelang nicht geschafft, Texte über individualisierte Frauenfiguren mit interessanten Problemen zu schreiben. Geburt etwa kommt in Gedichten von Männern nicht vor.

STANDARD: Sie stellen Gedichte über Abtreibung, Bergbau oder auch pornografische Lyrik von Frauen vor. Wie schwer war es, die aufzuspüren?

Bers: Etwas zu finden, von dem man gar nicht weiß, ob es das gibt, ist eine Herausforderung. Einerseits habe ich mich an der männlich geprägten Literaturgeschichte orientiert und versucht, zu deren Phänomenen Äquivalente, Gegenteile, Nischen oder Reaktionen zu finden. Andererseits habe ich viel und breit gelesen und mir auch ganz beliebige Schlagworte wie Sport genommen und in Sammlungen zum Thema gesucht. Eine Sportlyrikerin habe ich aber nicht gefunden.

STANDARD: Dafür Gedichte über die schwierige Situation von Arbeiterinnen. Eine Kategorie im Buch ist kritischer Lyrik von Frauen gewidmet.

Bers: Das Etikett "Frauen dichten anders" ist vor allem eine abwertende Exotisierung, doch trifft die Aussage zu, wenn es um explizit emanzipatorische Dichtung geht: weil man sich ja abheben muss, wenn man sich wehren will. Nicht nur als Frau an sich, auch als arbeitende, schwarze oder lesbische Frau. Kämpfe waren oft intersektional.

STANDARD: Wie ist die Lage heute? Louise Glück hat den Nobelpreis bekommen, Elke Erb den Büchner-Preis.

Bers: Dass Autorinnen von Kollegen als ebenbürtige Künstlerinnen wahrgenommen wurden, beginnt spätestens in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein Hinweis ist, dass sie angefangen haben, einander Gedichte zu schreiben und zu widmen. Sie haben einander nun über ihre Kunst begriffen und nicht mehr so sehr über ihr Geschlecht. In Anthologien der Gegenwart herrscht trotzdem keine Ausgewogenheit. (Michael Wurmitzer, 17.10.2020)