So verständlich und auch notwendig Ängste sind, führen sie Menschen und Gesellschaften oft doch auch in die Irre. Denn meist fürchtet man sich vor dem Falschen und lässt zu, dass populistische Politiker diese Emotionen für ihre Zwecke missbrauchen.

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Michelle Ziegelmeyer ist besorgt, wenn sie aus dem Fenster schaut. Hastig macht sie die Fensterläden zu und aktiviert das Messgerät: "2.000 Mikrowatt", liest sie ab. "Das ist immer noch viel zu viel." Sie ist sich sicher: Die Ursache der Strahlung in ihrer Wohnung liegt nur 15 Meter entfernt auf dem nächsten Dach. Drei weiße Handymasten, mit kleinen Aufsätzen und 5G-Funkübertragung. "Man fühlt sich nicht mehr sicher", sagt sie.

Michelle Ziegelmeyer will nicht lächerlich gemacht werden. Und schon gar nicht will sie, dass man sie als Verschwörungstheoretikerin bezeichnet. Sie will, dass man ihre Sorgen ernst nimmt. Was sie beruhigen könnte: Mit ihrer Angst vor Funkmasten ist sie in Österreich nicht allein. Laut einer im September erschienenen Studie hat jeder dritte Österreicher Angst vor 5G. Berechtigt sind die Sorgen laut Experten nicht, denn Gefahr geht von den Masten keine aus. Die Ängste aber sind dennoch real.

Gestiegene Unsicherheit

Und sie betreffen nicht nur Funkmasten. Ob technologische Entwicklungen, Klimawandel, Pandemien oder Arbeitslosigkeit: Eine Mehrheit der Menschen weltweit fühlt sich laut einer aktuellen Studie des französischen Versicherungsunternehmens Axa heute unsicherer als noch vor fünf Jahren.

Das Coronavirus hat diesen Trend noch verstärkt: Ein kaum bekannter und unberechenbarer Erreger, der jeden jederzeit infizieren und sogar töten kann, ist Zündstoff für viele Ängste. Doch wo ist die Grenze zwischen legitimer Vorsicht und irrationaler Panik?

"Wir müssen zwischen Angst und Furcht unterscheiden", meint Siegfried Kasper, Angstforscher und emeritierter Leiter der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Med-Uni Wien. Während sich die Furcht auf eine konkrete Gefahr richte, sei die Angst meist weniger konkret und diffuser. Dabei sei die Angst ein so natürliches Phänomen wie kaum ein anderes Gefühl. "Die Angst hält uns am Leben und schützt uns vor Gefahren. Wer keine Angst hat, ist entweder manisch oder steht komplett unter Drogen."

Angst macht Angst

Viele Ängste haben einen realen Kern, und ohne Angst wäre die Menschheit längst ausgestorben. Sie fokussiert die Sinne und löst reflexhafte Reaktionen aus. Wenn es in der afrikanischen Savanne im Gebüsch raschelte, dann war der Frühmensch gut beraten, schnell davonzulaufen und nicht erst eine langwierige Risikoabschätzung vorzunehmen. Das hätte die Überlebenschancen des Homo sapiens deutlich geschmälert.

Aber die Angst kann auch Angst machen – und uns in die Irre führen. Denn nicht immer richtet sich die Angst auf Dinge, die tatsächlich eine Bedrohung darstellen, sagt Kasper. "Wer sich permanent auf eine Angstsituation sensibilisiert, wird stärker darauf reagieren."

In der Fachsprache werde dies auch als Kindling-("Zündeln"-)Phänomen bezeichnet: Menschen beschäftigen sich dabei ständig mit dem Phänomen, lesen Katastrophenmeldungen oder schauen Filme zu dem Thema. "Mitunter kann das dazu führen, dass die Angst nur noch größer wird."

Verfügbarkeitsheuristik

Wie wenig Ängste in einigen Fällen mit akuten Bedrohungen zu tun haben, verdeutlicht ein Blick auf die Statistik: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Market aus dem Jahr 2017 hatten zwei Drittel der Österreich Angst vor Terrorismus. Das Risiko, an einem Autounfall zu sterben, ist allerdings 800-mal höher, als bei einem Anschlag ums Leben zu kommen, meint etwa der deutsche Soziologe Otwin Renn. An der Grippe sterben jedes Jahr tausendmal mehr Menschen als bei Anschlägen.

Wovor die Menschen sich ängstigen, hängt meist davon ab, wovon sie gerade häufig in den Medien hören und worüber sie mit Freunden sprechen. Nach dem 11. September 2001 und der Flüchtlingskrise von 2015 war es in erster Linie der Terrorismus. Dazu kam nach der Silvesternacht von Köln die Angst vor Kriminalität durch Asylwerber. Nur die wenigsten Menschen waren direkt davon betroffen, aber in der geistigen Vorstellung war es für viele sehr real.

Psychologen sprechen hier von einer Verfügbarkeitsheuristik: Worüber man gerade liest oder was man im TV sieht, das wird als Bedrohung wahrgenommen, die mit dem tatsächlichen Risiko nichts zu tun haben muss. Ist es nicht mehr so präsent, dann schwinden auch die Ängste.

Absurdes Wahlkampfthema

Wie unsinnig auch kollektive Sorgen sein können, zeigt das Beispiel der Nationalratswahl im September 2008, die vorgezogen wurde, nachdem die ÖVP die Koalition mit der SPÖ gesprengt hatte. Hauptthema im Wahlkampf war das, was den Menschen in den Wochen vor der Wahl am meisten Angst machte. Und das war – die Inflation.

Es ist rückblickend kaum zu glauben, aber wenige Tage vor dem Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers, der eine globale Finanzkrise und die tiefste Rezession seit den 1930er-Jahren auslösen sollte, beschäftigte Österreichs Öffentlichkeit vor allem die Frage, ob steigende Preise für Energie und Lebensmittel die Kaufkraft und damit den Wohlstand wegfressen werden.

Durch die Krise sank die Teuerung übrigens bald auf fast null und ist seither so niedrig, dass sich die Notenbanken vor allem vor anhaltender Deflation fürchten.

Spaltung der Gesellschaft

Dass eine STANDARD-Umfrage zu Jahresanfang über die größten Sorgen der Österreicher den Klimawandel, die wachsende Ungleichheit und Verschlechterungen im Sozialsystem und bei den Pensionen an die erste Stelle stellt und Pandemien gar nicht erwähnt werden, ist verständlich. Das Coronavirus begann damals erst in Wuhan zu zirkulieren. Aber beide Beispiele machen deutlich: Auch in der breiten Öffentlichkeit haben Ängste oft wenig mit realen Bedrohungen zu tun.

Das erschwert auch den Umgang mit der Pandemie. Die Angst vor dem Virus spaltet die Gesellschaft. Auf der einen Seite sind jene, die vor lauter Sorge auch auf Aktivitäten ohne besonderes Infektionsrisiko verzichten. Darunter leiden etwa Kulturevents, die trotz strikter Vorsichtsmaßnahmen halb leer bleiben. Andere wiederum pfeifen auf Masken und Abstandsregeln und tragen dadurch bei, dass das Virus sich wieder explosiv ausbreitet – siehe das aktuelle Beispiel Kuchl.

Andere Ängste werden nicht durch Einzelereignisse ausgelöst, sondern sind ständig präsent – die Angst vor Wohlstandsverlust, vor dem Arbeitsplatzverlust durch neue Technologien und immer mehr vor einer Klimakatastrophe. Auch Funkmasten verunsichern Menschen nicht erst, seit es 5G gibt.

Wen das Klima ängstigt

Beim Klimawandel sind es vor allem die Jungen, die die Erderwärmung als echte psychische Belastung empfinden und deshalb mit großem Engagement auf die Straße gehen. Andere sind sich zwar der Gefahren in der Theorie bewusst und geben Lippenbekenntnisse ab, aber schlaflose Nächte bereitet ihnen das Thema nicht.

Und kaum dominiert die Corona-Pandemie den Alltag, schwinden bei vielen die Klimaängste, obwohl die Gefahr nicht geringer geworden ist. Auf Flugreisen wird zwar verzichtet, aber aus Angst vor dem Coronavirus und nicht aus Rücksicht auf das Klima. Das ebenfalls klimaschädliche Autofahren im eigenen Gefährt ist wieder en vogue.

Dafür ist die Gesundheit wichtiger denn je, lösen vor allem Viren Beklemmung aus. Jahrelang wurde das Influenzavirus von den meisten Österreichern ignoriert, nur eine Minderheit ließ sich impfen. Die Grippe ist heuer nicht gefährlicher als in früheren Jahren, aber nun stürmen die Menschen Impfzentren.

Fehler der Experten

Auch Experten tun sich oft schwer, zukünftige Risiken richtig einzuschätzen. Der Versicherungskonzern Axa veröffentlicht seit fünf Jahren eine jährliche Studie dar über, wie Fachleute zukünftige Gefahren einschätzen. Vor einem Jahr nannten nur fünf Prozent Gesundheitsrisiken als brennendes Problem.

Bei der heurigen Umfrage wurden hingegen Pandemien als größte Bedrohung in der Welt genannt, verbunden mit der Sorge vor einer anhaltenden weltweiten Wirtschaftskrise. Erstmals rutschte dabei der Klimawandel auf den zweiten Platz.

Das ist verständlich. Aber wie im Bericht kritisch angemerkt wird, wird die Klimakrise außerhalb von Europa auch absolut weniger ernst genommen. Der Anteil der Experten, die sich über die Erwärmung des Planeten große Sorgen machen, ist weltweit von 67 auf 54 Prozent gefallen. Während in Europa das Klimarisiko auf einer zehnteiligen Skala in einem Verwundbarkeitsindex mit 6,3 aufscheint, beträgt der Wert in Afrika nur 5,3 – obwohl weite Teile des Kontinents von steigenden Temperaturen besonders hart getroffen zu werden drohen.

Missbrauch der Angst

Auch die eigene Biografie sowie die politischen und kulturellen Rahmenbedingungen entscheiden, ob und wovor sich Menschen fürchten. "Es gibt Kulturen, beispielsweise Japan, in denen die Angst überhaupt nicht akzeptiert wird", meint Kasper.

Totalitäre Systeme und Überwachungsstaaten würden grundsätzlich mehr Ängste bei Bürgern erzeugen als demokratische und rechtsstaatliche Systeme. Aber in allen Systemen lasse sich die Angst für politische Zwecke missbrauchen.

Dies bestätigt auch Karin Magrutsch, Psychotherapeutin und Expertin für Angststörungen in Wien. "In der Öffentlichkeit und in der Politik spielt Angst eine immer größere Rolle. Angst wird zum Grund fürs Dagegensein." Jene, die eine Politik der Angst betreiben, versprechen gleichzeitig, die Lösung für das Problem parat zu haben.

Schlechter Wegweiser

In der Politik ist Angst meist ein schlechter Wegweiser. Denn wenn es nicht um Spontanreaktionen, sondern um längerfristige Weichenstellungen geht, führen Ängste oft in die Irre. Sie werden ausgelöst von dem, was gerade sicht- und fühlbar ist, und nicht von dem, was in Zukunft zur Gefahr werden kann. Mehr als das: Angst verhindert eine zielgerichtete Beschäftigung mit einer unsicheren Zukunft.

Ängstliche Gesellschaften klammern sich an Althergebrachtes, schotten sich ab und vernachlässigen Zukunftschancen. Und wenn Politiker Ängste schüren, dann tun sie das nicht, um ihre Wähler zu schützen, sondern um Zustimmung und Macht zu gewinnen, und das zum Schaden anderer. Die stärkste Waffe Donald Trumps und anderer Politiker mit autoritären Zügen ist die Angst von Menschen davor, dass ihre gewohnte Lebensweise von äußeren Feinden bedroht ist.

Nicht jeder hat gleich starke Ängste, was laut Experten auch genetische Ursachen hat. Der Grad der Ängstlichkeit ist ein entscheidender Charakterzug jedes Menschen, der sich im Leben selten verändert. Er prägt zwischenmenschliche Beziehungen, die Berufswahl und auch die politische Einstellung.

Der deutsche Philosoph Philipp Hübl bezeichnet Angst als "Kernemotion der Konservativen und der Wähler von Rechtspopulisten". Er verweist auf neurowissenschaftliche Studien aus den USA, die zeigen, dass Konservative einen größeren Mandelkern haben, eine Hirnregion, die für Emotionsverarbeitung, vor allem Angstempfinden, wichtig ist.

Hilflos und passiv

Aber Ängste müssen weder irrational noch destruktiv sein. Die Frage ist laut Magrutsch, wie wir mit unseren Ängsten umgehen. "Angst kann zu groß werden und uns damit lähmen. Das ist die schlimmste Situation. Dann fühlen wir uns hilflos und werden passiv."

Angst könne uns aber auch dazu aktivieren, etwas zu tun, so Magrutsch. "Wer vor dem Coronavirus Angst hat, ist vielleicht eher darauf bedacht, nicht sich oder andere damit anzustecken." Wer vor dem Klimawandel Angst hat, engagiert sich vielleicht eher im Klimaschutz, fährt öfter mit dem Rad oder isst weniger Fleisch.

In den vergangenen Monaten sei besonders die Angst vor dem Alleinsein in die Höhe geschnellt, berichtet Magrutsch. Gleichzeitig können jene Menschen, die sozial isoliert sind, leichter gewisse Ängste entwickeln. "Zugehörigkeit spielt eine große Rolle, von anderen in der eigenen Angst verstanden zu werden. Es ist besser, sich zu zweit zu fürchten als allein", sagt Magrutsch.

Ziel sei es, sich von der Angst nicht kontrollieren zu lassen und im Moment der Angst einen kühlen Kopf zu bewahren. "Wir müssen uns gewissermaßen aus unserer Rolle hinausbegeben, uns fragen, wie hoch das Risiko wirklich ist, und die Angst in eine neue Perspektive setzen", betont Magrutsch.

Einige Ängste ließen sich mit sachlichen Informationen oder auch Gesprächen mit Freunden beruhigen. Ist eine Angst berechtigt und reflektiert, müssen sich am Ende auch Politik und Wirtschaft damit auseinandersetzen. Das haben auch Beispiele zu Datenaffären und nicht zuletzt dem Klimawandel gezeigt.

Google als Nährboden

Die Art der Informationen spielt laut Angstforschern wie Kasper eine große Rolle bei der Entwicklung von Ängsten. "Es geht darum, herauszufinden, welche Quellen am Ende vertrauenswürdig sind und welche nicht", sagt er. Suchmaschinen wie Google können praktisch zum Nährboden der eigenen Ängste werden.

"Manche schließen sich einer Meinung an, die vermeintlich die Welt erklärt, um sich so sicherer zu fühlen", erläutert Magrutsch. Wer Informationen und Handlungsanweisungen beziehe, fühle sich am Ende weniger hilflos.

Auch Michelle Ziegelmeyer hat sich informiert. Genau seit dem Zeitpunkt vor einem Jahr, als der Handymast gegenüber ihrer Wohnung aufgebaut wurde. "Ich habe gegoogelt und gegoogelt und bin von einem Artikel auf den nächsten gestoßen", sagt sie. Seit ein paar Monaten ist ihre Wohnung wie im Umzug begriffen.

Auf dem Boden verstreut liegen Kartons, die Möbel sind in die Ecke gerückt. "Wir wollen einen Teil der Strahlung abschirmen", meint sie. Dafür will sie die Wände schwarz streichen. Wissenschaftlich belegt ist weder, dass die Strahlung schädlich ist, noch, dass die Maßnahmen etwas bringen. Für Magrutsch können sie trotzdem nützlich sein: "Es ist besser, man tut etwas, wovon man glaubt, dass es ein Problem lösen kann, als man tut gar nichts." (Jakob Pallinger, Eric Frey, 17.10.2020)