Birgit Hebein hat ihre Uniform vom Wahlabend noch einmal angezogen. In ihrem weich fallenden dunkelgrünen Kleid ist die Wiener Vizebürgermeisterin am Sonntag zu einer der erfolgreichsten grünen Politikerinnen aufgestiegen. Vier Tage später steht sie darin stolz und aufrecht wieder vor den Mikrofonen.

Christoph Wiederkehr startete als Außenseiter in den Wahlkampf, inzwischen werden ihm gute Chancen auf den Vizebürgermeister eingeräumt. Die Neos haben Lust aufs Mitregieren, die SPÖ ist nicht abgeneigt.
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Ihre Stimme ist sonor und klar – sie spricht langsam, verhaspelt sich an diesem Tag kaum und wiederholt ihre Message: "Ich habe die Partei zum größten historischen Sieg geführt." Hebein lächelt, völlig entspannt wirkt sie nicht. Die Feierlaune ist bei den Grünen längst einer Katerstimmung gewichen – der Koalitionspartner liebäugelt mit dem Fremdgehen.

Und das ausgerechnet mit Christoph Wiederkehr, 30 Jahre, breites Grinsen, ein Mann, der sogar unter dem Hoodie ein Hemd trägt. Sonntagabend wurde der Wiener Neos-Chef überraschend zum Angstgegner Hebeins. Bis dahin galt eine Fortsetzung von Rot-Grün als die wahrscheinlichste Variante. Nun haben auch SPÖ und Neos eine stattliche Mehrheit.

Am Montag wird Wiederkehr mit seiner Vizeklubobfrau Bettina Emmerling und Nikola Donig, dem Generalsekretär der pinken Bundespartei, beim Bürgermeister aufmarschieren – für ein Sondierungsgespräch. Er hat den ersten Termin bekommen. Die Grünen sind am Dienstag dran. "Vor zwei Jahren hätten die meisten noch gesagt: Rot-Pink, das geht sich nicht aus", sagt Donig. "Aber die Chance ist da."

Roter Sinneswandel

Donig untertreibt. Erstens hätten wohl selbst vor ein paar Monaten noch die wenigsten an eine Koalition zwischen SPÖ und Neos in Wien geglaubt. Zweitens ist die Möglichkeit einer pinken Regierungsbeteiligung inzwischen mehr als nur denkbar. Bis vor kurzem galten die Pinken bei vielen Sozialdemokraten als lästige Neoliberale. Fragt man die Hauptstadtroten heute, hört man, wie nett dieser Wiederkehr doch sei. Danach wird meist erläutert, welche Vorteile die Neos mit sich bringen.

Man fragt sich: Wie kam es zu diesem Sinneswandel? Steuern wir gerade wirklich auf Rot-Pink zu? Und welche Strategie verfolgen die Grünen?

Was Hebein derzeit tut, ist in der Ökopartei ziemlich unüblich: Sie überbetont ihren persönlichen Erfolg. Ihre Worte haben dabei klare Adressaten: all jene, die an ihr zweifeln. Schon vor der Wahl wurden Gerüchte gestreut – von Grünen wie auch Roten –, die Wiener Koalition könne möglicherweise ohne Hebein fortgesetzt werden. Nach dem 11. Oktober wurden sie lauter.

Dabei ist die Diskussion schon viel älter. Hebein kennt die Leier. Bereits vor ihrer Wahl zur Nachfolgerin Maria Vassilakous als Vizestadtchefin hörte man im Rathaus: Die SPÖ wolle jede und jeden – nur bitte nicht Hebein.

Nach etwas mehr als einem Jahr der Zusammenarbeit kühlte die Beziehung zwischen Ludwig und Hebein im Wahlkampf weiter ab. Das lässt auch bei den Grünen nicht alle kalt. Denn fest steht: Der kleine Koalitionspartner will in Wien weiterregieren. Die Oppositionsrolle hätte viele Nachteile.

Hebeins Gegenspieler

Birgit Hebein hat das Vizebürgermeisteramt seit etwas mehr als einem Jahr inne. Die fixe Wiederbesetzung ist die Grüne aber nicht.
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Die rot-pinke Beziehung verlief hingegen genau gegenläufig: Das Verhältnis ist im Wahlkampf aufgetaut. Wiederkehr gilt im Vergleich zur früheren Neos-Wien-Chefin Beate Meinl-Reisinger nicht als Ideologe, in den vergangenen Wochen hat er das aus Sicht der Roten unter Beweis gestellt.

Er sprach zwar gerne davon, der SPÖ auf die Finger zu schauen, war ansonsten aber relativ handzahm. Seine fünf Koalitionsbedingungen, die er im Vorfeld gestellt hatte, sind für die Sozialdemokraten nicht unerfüllbar – wer ist schon gegen mehr Geld für Bildung, Klimaschutz oder eine "Grätzeloffensive"?

Haarig könnte es beim Thema Transparenz werden. "Wir wollen lüften, mal schauen, wie viel Frischluft der Bürgermeister und die SPÖ hereinlassen wollen", formuliert es Donig.

Hebein gibt sich währenddessen selbstbewusst. Bei der von ihr angesetzten Pressekonferenz am Donnerstag wird sie links und rechts vom grünen Spitzenteam flankiert. Es setzt sich aus ihren möglichen Konkurrenten zusammen: Planungssprecher Peter Kraus, Arbeitsmarktexpertin Judith Pühringer, Klubchef David Ellensohn. Sie stehen im Ecksalon des grünen Rathausklubs – dort, wo sie sich am Wahlabend über ihr Ergebnis gefreut hatten – und demonstrieren Einigkeit.

Die Grünen seien eine Frauenpartei, die Einzigen in Wien, die eine Chefin an der Spitze haben, sagt Pühringer. Hebein habe mehr Vorzugsstimmen erhalten als jede andere grüne Spitzenkandidatin vor ihr, erwähnt Ellensohn.

Das Signal ist eindeutig: Hebein ist unbestritten. Zumindest hier. Zumindest heute.

Stadtrat-Planspiele

Eigentlich könnten bei den Grünen alle bekommen, was sie wollen. Der Zugewinn von sechs Sitzen im Gemeinderat verschafft ihnen einen zusätzlichen Stadtratsposten. Hebein und Kraus könnten je einen belegen, Ellensohn Klubchef könnte bleiben. Dadurch würden neben Hebein auch ihre beiden Gegenspieler befriedet, die ihr 2018 in der internen Wahl zum Spitzenkandidaten unterlegen waren.

Doch genau dieses zusätzliche Amt ist es, das den Grünen zum Verhängnis werden könnte. Die Zahl der Stadträte wird in jeder Periode neu festgelegt. Derzeit sind es zwölf: sechs rote, eine grüne – sie sind amtsführend, also mit einem Ressort bedacht. Dazu kommen vier blaue und ein türkiser nichtamtsführender Stadtrat.

Durch das Wahlergebnis erhalten Grüne und ÖVP auf Kosten der Blauen je einen zusätzlichen Posten. Den Neos steht nur ein Stadtrat zu. Sie wären für Ludwig also die günstigste Wahl – an sie müsste er die wenigsten Themen abgeben.

Aufteilung der Ressorts

Denn nicht nur die Zahl der Stadträte wird alle fünf Jahre festgelegt. Auch die Agenden können jederzeit neu durchgewürfelt werden. Ulli Simas rotes Monsterressort könnte etwa – falls ein zusätzliches Ressort in der Koalition benötigt wird – aufgeteilt werden. Sima ist derzeit für die Stadtwerke, Öffis, Stadtgärten, den Umwelt- und Tierschutz sowie die Abfallwirtschaft, das Marktamt, die Forst- und Landwirtschaft und Gewässer zuständig. Das sind nicht nur viele Bereiche, dort liegt auch viel Budget.

Fest steht: Je nachdem, welche Agenden die SPÖ aus der Hand geben will, bietet sich ein anderer Koalitionspartner an.

Die Grünen haben mit der Stadtplanung derzeit ein wichtiges, aber auch unliebsames Ressort. Mit den Verkehragenden macht man sich in Wien wenig Freunde. Und: Am Bürgermeister vorbei passiert sowieso nichts. Das ließ Ludwig Hebein zuletzt bei deren Plänen für eine autofreie City spüren.

Wiederkehr hätte hingegen gerne das Bildungsressort, das derzeit Jürgen Czernohorszky leitet – der im roten Team gemeinsam mit Peter Hacker den linken Flügel der SPÖ abdeckt.

Und dann kommt noch hinzu, dass mit Barbara Novak auch die rote Landesparteisekretärin in die Regierung drängt. Um für sie Platz zu machen, müsste ein anderer gehen. Zusätzlich stellen sich Fragen der Geschlechterverteilung: Wenn Hebein das Team für Wiederkehr verlassen würde, wird eine Frau durch einen Mann ersetzt.

Fifty-fifty

Über all das wird in der Wiener SPÖ gerade heftig diskutiert. Die meisten, die man fragt, ob Neos oder Grüne die besseren Karten haben, antworten: Es steht fifty-fifty. Machtpolitisch seien die Neos die bessere Wahl, mit den Grünen habe man dafür Erfahrung – außerdem sind sie in einigen Bezirken stark und gut verankert, das fehle den Neos völlig.

Auch Ludwig lässt alles offen. Inhaltlich seien ihm die Themen Gesundheit, Arbeitsmarkt, Bildung und Klimaschutz wichtig. Zwar will er völlig ergebnisoffen verhandeln, rote Linien gibt er trotzdem vor: Der geförderte Wohnbau werde keinesfalls zurückgenommen, Privatisierungen – etwa im Gesundheitswesen – kämen nicht infrage, stellt er wohl in Richtung Neos klar. Ansonsten sei nur der Job des Bürgermeisters nicht verhandelbar.

Ruhig ist es zwischen all den rot-grün-pinken Debatten um die Türkisen geworden. Dabei galt Wiens Bürgermeister eigentlich immer als Freund der großen Koalition. Die letzte rot-schwarze Regierung bildete Michael Häupl im Jahr 1996, nachdem er die Absolute verloren hatte.

An ein Wiederaufleben dieses Koalitionsmodells glaubt aktuell aber kaum noch jemand. Das liegt vor allem daran, dass Ludwig mit dem Wiener ÖVP-Chef Gernot Blümel nicht besonders kann – und der sagt: Ohne ihn gehe es nicht. Die ÖVP hat ihren ersten Termin am Mittwoch – nach Neos und Grünen. (Oona Kroisleitner, Katharina Mittelstaedt, 17.10.2020)