Johannes Lanzinger ist Klinischer und Gesundheitspsychologe in der auf Phobien spezialisierten Wiener Praxis Phobius.
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Erst sind die Spinnen virtuell, später auf Wunsch real.
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In ganz extremen Fällen kann Arachnophobie dazu führen, dass sich Betroffene sozial isolieren. Auch Depressionen sind als Folgeerkrankung möglich.
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Mit dem Herbst kriechen in vielen Wohnungen wieder die Spinnen aus ihren Verstecken. Das bringt Menschen, die unter Arachnophobie – also einer Angst vor Spinnen – leiden, an ihre Grenzen. Der Psychologe Johannes Lanzinger erklärt, warum so viele Menschen Angst vor Spinnen haben – und wie Betroffenen eine Konfrontation mit rein virtuellen Spinnen helfen könnte.

STANDARD: Woher kommt die Angst vor Spinnen?

Lanzinger: Früher wurde vermutet, dass die Arachnophobie von einem traumatischen Erlebnis und negativen Lernerfahrungen ausgelöst wird. Heute wissen wir: Das greift zu kurz. Bei der Entwicklung einer Phobie spielen verschiedene Faktoren zusammen. Da ist zum einen die Genetik. 40 bis 60 Prozent der Wahrscheinlichkeit, eine Spinnenphobie zu entwickeln, sind genetisch bedingt. Aber es gibt auch eine menschliche Grundangst vor Spinnen. Die meisten Menschen fühlen sich nicht hundertprozentig wohl, wenn ihnen eine Spinne übers Gesicht krabbelt. Evolutionär betrachtet machte dies ja durchaus Sinn, denn Spinnen können – zumindest in anderen Teilen der Welt – giftig sein. Sogar Babys, die noch nie zuvor Kontakt mit einer Spinne hatten, zeigen emotionale Reaktionen, wenn man ihnen Spinnenbilder zeigt. Dazu kommt dann auch noch von den Eltern übernommenes Verhalten und falsche Überzeugungen, zum Beispiel der Mythos, dass man im Schlaf Spinnen schluckt.

STANDARD: Wie kann sich die Phobie äußern?

Lanzinger: Eine extreme Spinnenphobie kann Menschen in ihrem Leben stark einschränken. Manche schlafen zum Beispiel nur noch mit einem Taschentuch über dem Mund, damit ihnen in der Nacht keine Spinne in den Mund krabbelt. Manche verrücken ihre Möbel dreimal am Tag oder saugen die Wohnung mehrmals täglich, damit sich keine Spinnenweben bilden. Und wenn ein T-Shirt auf den Boden fällt, wird das gewaschen, weil auf dem Boden hätte ja zuvor eine Spinne krabbeln können. Sie gehen nicht unter Bäumen, entlang einer Hauswand oder in einer Wiese, weil sie Angst vor einer Begegnung mit einer Spinne haben. In ganz extremen Fällen kann das dazu führen, dass sich Betroffene sozial isolieren. Auch Depressionen sind in solchen Fällen als Folgeerkrankung möglich.

STANDARD: Wie schaut die körperliche Reaktion aus?

Lanzinger: Der Puls schnellt in die Höhe, die Muskeln spannen sich an und der Blutdruck steigt. Manche beginnen zu zittern, andere hyperventilieren, ganz typisch ist auch ein Versteinern, also dass man die Spinne fixiert und nicht wegschauen kann. Betroffene stehen zum Teil drei Stunden in der Wohnung und können sich nicht bewegen.

STANDARD: Arachnophobiker und Arachnophobikerinnen bekommen dann oft zu hören: Die tut ja nichts. Ist das hilfreich?

Lanzinger: Nein. Die meisten Spinnenphobiker wissen ja, dass ihnen die Spinne nichts tut. Aber hinter der Angst stehen oft viele irrationale Befürchtungen: Wenn ich eine umbringe, kommen andere, um sich zu rächen, zum Beispiel. Im Endeffekt geht es um den Hautkontakt mit einer Spinne. Das ist für Betroffene das Allerschlimmste – und das können sie nicht begründen. Sie haben einfach Angst davor.

STANDARD: Wie also umgehen mit einem Mitbewohner, der Spinnenphobiker ist?

Lanzinger: Man kann natürlich versuchen, ihn ernst zu nehmen in seiner Angst und ihn zu beschützen. Man kann die Spinne für den Mitbewohner entfernen. Das ist erst mal gut, weil dann fühlt er sich wohl. Auf der anderen Seite verstärkt man damit die Problematik, weil man dafür sorgt, dass der Phobiker weiterhin nicht in Kontakt mit Spinnen kommt. Dadurch werden Betroffene im Umgang mit Spinnen immer weniger selbstbewusst und die Angst nimmt zu. Allerdings kann man Betroffenen auch nicht dabei helfen, ihre Angst anzugehen, wenn sie nicht dazu bereit sind.

STANDARD: Dass man sich bei der Bewältigung einer Arachnophobie auch psychologische Hilfe holen kann, ist wohl noch nicht so weit verbreitet?

Lanzinger: Das stimmt leider. Dabei sind Phobien jene psychischen Störungen, die man am besten behandeln kann. Es gibt sehr gut evaluierte Behandlungskonzepte, man braucht keine Medikamente – und die Behandlung dauert nicht so lange.

STANDARD: Wann suchen sich Betroffene Hilfe?

Lanzinger: Oft gibt es ein auslösendes Erlebnis, in dem man komplett die Kontrolle verliert. Es gibt zum Beispiel Patienten, die mit dem Auto unterwegs waren, wo sich plötzlich eine Spinne abseilte – und die aufgrund ihrer Reaktion darauf fast einen Unfall gebaut hätten. Sie erreichen einen Punkt, wo sie sich denken, da muss ich etwas tun.

STANDARD: Wer sind die Menschen, die bei Ihnen typischerweise Hilfe suchen?

Lanzinger: In unserer Praxis sehen wir viel mehr Frauen als Männer. Das muss aber nicht bedeuten, dass sich mehr Frauen als Männer vor Spinnen fürchten. Männern ist eine solche Angst tendenziell peinlicher. Und bei uns melden sich selten Betroffene, die älter sind als 50. Dafür kann Arachnophobie auch bei Kindern schon ein Problem sein.

STANDARD: Wie läuft eine Therapie ab?

Lanzinger: Es geht darum, sich den Ängsten zu stellen und daraus Selbstbewusstsein zu gewinnen. Bei einer Spinnenphobie sind in der Regel etwa zehn Einheiten nötig. Die ersten drei, vier Einheiten dienen der Vorbereitung und der Anamnese. Es gibt eine Aufklärungseinheit über Spinnenphobie, in der es darum geht, möglichst gut zu verstehen, wo diese Angst herkommt. Wir schauen uns auch die konkreten Gedanken an, die zu den Ängsten führen. Und dann lernen wir ein, zwei Entspannungstechniken mit Biofeedback. Erst dann starten wir mit der Konfrontation – und diese verläuft gestuft. Es geht mit der Zeichnung einer Spinne los. Da geht es darum, dabeizubleiben und sich mithilfe der Entspannungsübungen selbst zu beruhigen. Nach einer gewissen Zeit tritt dabei eine Beruhigung ein. Dann gehen wir über zum nächsten Bild, das schon in Farbe ist und daher realistischer. Das übernächste ist dann schon ein echtes Foto. Wenn das klappt, gehen wir zu Videos über.

STANDARD: Und dann?

Lanzinger: Die nächste Stufe ist bei uns Virtual Reality. Patienten setzen sich also eine VR-Brille auf. Aus einem Blumentopf am Tisch krabbeln dann Spinnen hervor. Der Therapeut kann aber einstellen, wie viele und welche Spinnen das sind und wie nahe sie dem Patienten kommen. Optional können auch Spinnen am Boden krabbeln. Wenn das gut klappt, kann man auch mit echten Spinnen arbeiten. Wir haben die Haut von einer Tarantel, die ausschaut wie die Spinne selbst, manchmal fangen wir auch selbst eine Zitterspinne oder eine Hauswinkelspinne zu Hause ein und bringen sie mit. Der letzte Schritt ist dann optional: Wer will, kann sich eine Vogelspinne einer befreundeten Amphibienzoohandlung auf die Hand setzen. Aber ehrlich gesagt reichen vielen die Virtual-Reality-Spinnen, und eine Konfrontation mit echten Spinnen ist nicht nötig.

STANDARD: Kann man eine Phobie so besiegen?

Lanzinger: Besiegen nicht, aber eine Mehrheit der Patienten berichtet zumindest, dass eine deutliche Besserung eintritt. Man versteinert dann vielleicht nicht mehr, wenn man eine Spinne sieht, sondern bleibt ruhig, nimmt ein Glas und ein Blatt Papier. Oder schafft es, die Spinne einfach an der Wand sitzen zu lassen – oder sie zumindest selbst zu töten. Der Gedanke, dass einem eine Spinne über die Hand läuft, wird die meisten trotzdem weiterhin nervös machen.

STANDARD: Führt an der Konfrontationstherapie bei einer Spinnenphobie kein Weg vorbei?

Lanzinger: Manche probieren es auch mit Hypnose, allerdings gibt es dafür keine wissenschaftliche Evidenz. Konfrontation ist erwiesenermaßen am wirkungsvollsten. Wobei das ja nicht bedeutet, dass man sich in einen Raum setzen muss, in dem 100 Spinnen warten. Das muss natürlich gut vorbereitet werden, der Patient dabei immer die Möglichkeit haben, aufzuhören. Und es funktioniert. Dass man eine Spinnenphobie hat, kann man nicht ändern. Aber man kann lernen, damit umzugehen. (Franziska Zoidl, 25.10.2020)