Soll die chemische Industrie klimaneutral werden, braucht es mehr Recycling, errechnen Forscher. Dafür braucht es nicht nur einen Ausbau der Infrastruktur, sondern auch einen entsprechenden rechtlichen Rahmen für chemisches Recycling.

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Klimaneutralität in Österreich bis zum Jahr 2040 – das ist ein Eckpfeiler im Programm der zu Jahresbeginn angetretenen Regierung. Wie die entsprechende wirtschaftliche und technologische Transformation im Detail aussehen soll, ist aber noch alles andere als klar. Doch Forschungen, die realitätsnahe Umbauszenarien entwerfen, nehmen zu.

Ganz neu ist eine Studie, die im Auftrag des Fachverbands der chemischen Industrie (FCIO) entstanden ist. Die Studienautoren Andreas und Bernhard Windsperger vom in St. Pölten beheimateten Institut für industrielle Ökologie haben durchgerechnet, welche Maßnahmen und wie viel zusätzliche Energie für eine klimaneutrale Chemiebranche notwendig wäre.

Sie schlagen eine Mischung aus Recycling und alternativen Syntheseverfahren, die auf fossile Rohstoffe verzichten, vor, um Kunststoffe, Lösungsmittel, Dünger, Klebemittel und viele andere chemische Produkte herzustellen.

Zusätzliche Energie

Eine zentrale Erkenntnis der Studie: Neben dem Bedarf an alternativen Kohlenstoffquellen für die neuen Syntheserouten wäre ein Energieaufwand von 15 Terawattstunden (TWh) notwendig, um die bisher genutzten fossilen Energiequellen zu ersetzen.

Zusätzlich bräuchte es für die neuen Verfahren weitere 16 TWh an elektrischem Strom. Dieser Energiebedarf müsste dann also aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Zum Vergleich: Die Österreicher verbrauchen derzeit pro Jahr gut 70 TWh an Strom. Das Wiener Donaukraftwerk Freudenau bringt pro Jahr etwa 1 TWh.

Die gute Nachricht dabei ist das hohe Einsparpotenzial, das sich durch Recycling ergibt. Eine Studie von 2018, die keine Recyclingmöglichkeiten berücksichtigte, kam noch auf einen Energiebedarf von 61 TWh für eine dekarbonisierte Chemiebranche – also das Doppelte des neuen Werts.

Dass man bisher gerade das chemische Recycling in den Berechnungen außer Acht ließ, hat auch rechtliche Gründe. "Kreislaufwirtschaft ist ein Schlüsselelement für eine klimaneutrale Produktion in der Chemie. Dazu fehlt jedoch noch der rechtliche Rahmen, denn derzeit wird eine klimaneutrale Wiederverwertung von Kunststoffen nicht als Dekarbonisierungsmaßnahme anerkannt", sagt FCIO-Geschäftsführerin Sylvia Hofinger.

Sortieranlagen mit moderner Sensorik

Wie müsste nun eine chemische Industrie, die den Bedarf in Österreich klimaneutral decken kann, im Detail aussehen? Für den Bürger, der pflichtbewusst seinen Müll trennt, ändert sich wenig. Anstelle der Sammlung bestimmter Kunststoffprodukte wie PET-Flaschen sollte es eine Gesamtkunststoffsammlung geben, die von der Verpackung über die Küchenschüssel bis zum Plastikspielzeug alles aufnimmt.

"Für Konsumenten wird es eigentlich einfacher. Es ist aber eine größere organisatorische Umstellung der Abfallwirtschaft notwendig", erklärt Studienautor Andreas Windsperger. Sortieranlagen mit moderner Sensorik, die heute nur für einen Teil der Kunststoffabfälle eingesetzt werden, müssten zum Standard werden.

Bei Materialverbünden müsste einerseits chemisches Recycling zum Einsatz kommen, dessen Endprodukte wie Rohöl wieder verschiedenen Zwecken zugeführt werden – Versuche im großtechnischen Maßstab gibt es hier bereits. Andererseits ist "Design for Recycling" ein wichtiges Element. Produkte sollen also gezielt so gestaltet werden, dass die Wiederverwertung einfacher wird.

Herstellung von Ethylen

Das verstärkte Recycling soll nun mit verschiedenen Neusyntheseformen kombiniert werden. Die Forscher haben für ihre Studie die Herstellung von Ethylen in den Fokus genommen – einer Schlüsselsubstanz in der chemischen Industrie, unter anderem Basis eines großen Teils der Kunststoffe. Windsperger skizziert drei nichtfossile Wege zur Herstellung dieser Grundchemikalie.

"Bei der Wasserstoffroute wird im Grunde der Vorgang der Verbrennung umgekehrt. In einer Reaktion aus CO2 und dem Energieträger Wasserstoff entstehen die gewünschten Verbindungen", erklärt Windsperger. "Das CO2 kann dabei im Sinne von Carbon Capture and Utiliziation (CCU) aus der Abscheidung von Abgasen – etwa aus Kraftwerken – resultieren." Der Weg zu Ethylen führt entweder über Methanol oder über einen direkten Syntheseweg, der aber noch nicht großtechnisch erforscht ist.

In jedem Fall bräuchte das Verfahren große Mengen an Wasserstoff, der durch Elektrolyse aus Wasser hergestellt wird und nicht – wie jetzt üblich – aus fossilem Methan. Das lässt den Bedarf an erneuerbarer Energie in die Höhe schnellen. Auch die Herstellung des als Dünger wichtigen Ammoniaks, bei dem heute ebenfalls Erdgas den wichtigsten Ausgangsstoff gibt, müsste umgestellt werden.

Vergasung von Biomasse

Ein weiterer Weg zu nichtfossilem Ethylen führt über die Vergasung von Biomasse zu Methanol. Das aus der Vergasung resultierende Synthesegas macht die benötigten Kohlenstoffverbindungen zugänglich. "Die Vergasung wird heute vor allem für die Energiebereitstellung genutzt. Die Herstellung von chemischen Grundstoffen wird erforscht, ist aber im Moment noch nicht marktreif", erklärt Windsperger.

Die dritte Route führt schließlich über Ethanol, das heute meist als Biotreibstoff Nutzen findet und aus Agrarprodukten wie Zuckerrohr gewonnen wird. Ethanol lässt sich aber per katalytischer Dehydrierung auch in Ethylen umwandeln.

"Es gibt Beispiele in Brasilien, wo ausgehend von Ethanol aus Rohrzucker bereits Bio-Polyethylen hergestellt wird", betont der Forscher. Der Vorteil ist hier der vergleichsweise geringe Energieaufwand, der Nachteil liegt im Wert der Ausgangsstoffe und dem Konkurrenzverhältnis zur Lebensmittelherstellung.

CO2 und Biomasse

"Der Mix, den wir vorschlagen, kombiniert Rohstoffverfügbarkeit und Marktverträglichkeit bestmöglich", sagt Windsperger. Er geht von einem Bedarf von einer Million Tonnen CO2 aus, das aus biogenen Quellen oder der Abgasabscheidung stammt. 1,6 Millionen Tonnen Biomasse aus Wäldern sind zudem laut der Studie notwendig – etwa zehn Prozent des aktuellen Holzeinschlags und eine potenzielle Verwertungsmöglichkeit für Schadholz. Agrarbiomasse ist mit 0,9 Millionen Tonnen eingerechnet. Hier würde die Biotreibstoff-Beimischung infrage gestellt.

Der Schlüssel für die Dekarbonisierung ist aus Sicht der chemischen Industrie aber der Energiepreis. "Eine klimaneutrale Produktion ist mit einem deutlich höheren Energiebedarf verbunden – beispielsweise um grünen Wasserstoff herzustellen", sagt Geschäftsführerin Hofinger. "Entscheidend für das Gelingen der Klimawende wird daher sein, dass ausreichend erneuerbare Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung steht." (Alois Pumhösel, 24.10.2020)