Die Septembersonne hatte den Start erleichtert. Warm war's, als die Schulen den Betrieb wiederaufnahmen. Die Fenster konnten dort, wo sie sich öffnen lassen, ohne größeres Gemaule aufgerissen werden. Mit Handdesinfektion, Masken und Abstandhalten war der Unterricht zwar anders als in all den Schuljahren davor – aber man gewöhnt sich an fast alles, vor allem wenn draußen eine Pandemie tobt.

Jetzt, etwas mehr als einen Monat später, macht sich bei vielen Ernüchterung breit. Klassen, die geschlossen werden, Schularbeiten, die vertagt werden müssen, und Lehrkräfte, die ausfallen – die Sorgen der Eltern sind derzeit groß. Droht wegen Corona ein verlorenes Schuljahr samt schlimmen Folgen?

Ob die "Kollateralschäden", die Corona an der Bildung anrichtet, wieder aufgeholt werden können?
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"Die Lehrkräfte können vieles ausgleichen, und bei den Lehrplänen gibt es Spielraum", sagt Andreas Vohns vom Institut für Didaktik der Mathematik an der Uni Klagenfurt. Aus Studien zu Schulferien wisse man aber, dass in unterrichtsfreien Zeiten soziale Faktoren stärker zum Tragen kommen. Es sei davon auszugehen, dass sich dieser Befund auch auf Phasen wie den Lockdown vor dem Sommer übertragen lässt, in denen sich Lernen stark in den außerschulischen, familiären Bereich verlagert.

Bereits kurz nach dem Aussetzen des Unterrichts im vergangenen März hatten Pädagoginnen und Pädagogen Alarm geschlagen, weil viele Kinder und Jugendliche für sie plötzlich nicht mehr erreichbar waren. Weil sie keinen Computer hatten. Weil sie niemand daran erinnert hat, rechtzeitig alle Übungen zu erledigen oder an der Online-Stunde teilzunehmen. Weil eine ganze Reihe anderer Probleme über sie hereingebrochen und Lernen dadurch zur Nebensache verkommen ist.

"Angehäufte Kollateralschäden"

Mitte Mai waren sie alle wieder zurück in den Klassen, kurz zumindest. Gero Fischer, Sprachwissenschafter an der Uni Wien, hat schon damals von einem "verlorenen Sommersemester" gesprochen, nicht nur was den "Stoff" anlangt, sondern auch was die "angehäuften Kollateralschäden" bei Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Konzentration, Motivation betrifft. Und diese Probleme hätten in der ein oder anderen Form fast alle, unabhängig von der familiären Situation, betroffen. Jetzt, im Herbst, findet der Slawist: "Das kann man ja nicht einfach so stehen lassen! Das muss aufgefangen werden!" Die Alternative: Wissenslücken werden mitgeschleppt, versäumte Gelegenheit zum Üben nie nachgeholt. Spätestens bei den Studienanfängerinnen und Studienanfängern, insbesondere in den Sprachfächern, gebe es durch das Versäumen wertvoller Unterrichtszeit "enorme Probleme", so Fischer.

Die Sorge vor Corona-bedingten Wissenslücken hat auch der Bildungsminister geteilt. Allerdings zielte seine politische Antwort auf das Problem nur auf eine bestimmte Gruppe von Schulpflichtigen ab: jene aus den Deutschförderklassen. Für diese rund 11.000 Kinder und Jugendlichen rief Heinz Faßmann (ÖVP) die "Summer School" ins Leben – hier wurde kurz vor dem Ende der Sommerferien zwei Wochen lang unter Anleitung von Lehramtsstudierenden Deutsch gelernt. Das Projekt soll künftig ausgeweitet werden. Sowohl was die Inhalte als auch was die Zielgruppe betrifft. Mehr war vom Bildungsminister zum Thema Lernrückstände dann aber auch nicht mehr zu hören. "Wo blieb die Aufforderung zu lesen?", fragt sich etwa Gero Fischer. Gerade das hätte seiner Ansicht nach in der schulpräsenzfreien Zeit geübt werden können – eine praktikable Organisation von Büchereien und Bibliotheken vorausgesetzt.

In Wien gibt es nach den zweimonatigen "Summer City Camps" auch in den bevorstehenden Herbstferien die Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen und jenes Wissen, das noch nicht ganz sitzt, zu festigen. Didaktiker Vohns hält das für eine gute Idee: "Es gibt dazu hoffnungsmachende Erfahrungen." Jedenfalls, wenn die Camps nicht auf Deutsch eingeengt sind und sich stattdessen an lernschwache Kinder und Jugendliche insgesamt richtet.

Die Farbe Orange

Bis zu den erstmals stattfindenden Herbstferien steht noch eine Woche Schule an. Die Zahlen des Ministeriums wollen bis dahin Beruhigung vermitteln, zeigen aber nur einen Teil des Gesamtbildes. Mit Stand Freitag, 16. Oktober, befanden sich 1.400 Schülerinnen und Schüler sowie 200 Lehrkräfte in Quarantäne – jedenfalls jene, von denen die Behörden wissen. Wer sich privat testen lässt oder während der Wartezeit auf ein ausständiges Testergebnis freiwillig zu Hause bleibt, wem auch ohne offiziellen Quarantänebescheid geraten wird, daheim zu bleiben, wird hier nicht mitgezählt. Währenddessen nimmt die Bildungsampel in Teilen Österreichs schon wieder eine dunkle Farbe an. In zehn Bezirken in Salzburg und Tirol steht sie aktuell auf Orange. Oberstufenschüler wechseln damit wieder ins Distance-Learning – auch wenn das laut Bildungsminister gar nicht zwingend notwendig wäre.

Wann werden die nächsten Schulen folgen? Wird Lernen im Wintersemester überhaupt vorwiegend "remote" stattfinden? Nach der Lehrergewerkschaft befürwortet das jetzt auch die ÖVP-nahe Schülerunion. Faßmann rät den Schulen in einem Schreiben aktuell schon, die Klassen für einen möglichen Wechsel zurück zum Schichtbetrieb in annähernd gleich große Gruppen zu teilen. Und noch einen Wunsch hat der Minister, wohl auch eine Lehre aus dem Frühling: Die Kinder und Jugendlichen sollen bitte im täglichen Wechselspiel an die Schulen geholt werden und nicht wieder an jedem Standort in einem anderen Rhythmus.

Bildungspsychologin Christiane Spiel von der Universität Wien hat die unterrichtsfreie Zeit ab März genutzt, um nachzufragen, wie es den Lernenden mit der ungewohnten Situation eigentlich geht. Für sie steht fest: Eine ohnehin bereits sehr heterogene Ausgangslage wurde über die Distanz noch verschärft. Was sich außerdem gezeigt habe: "Die Fähigkeit zur Selbstorganisation wurde in den Schulen nicht ausreichend systematisch gefördert." Dabei gelte diese Kompetenz als zentraler Faktor für Lernerfolg. Ob jetzt all das, was aus ebendiesen Gründen während des Lockdowns verlorengegangen ist, nachgeholt wird?

Für Distance-Learning fit machen

Herbert Kirschner ist Direktor des Georg-von-Peuerbach-Gymnasiums in Linz. Ob es tatsächlich einen Lernverlust gebe, wisse man wohl erst am Ende des Schuljahres, sagt er. Tatsache sei aber: "Wir haben in den ersten Klassen anfangs gar nicht richtig unterrichtet. Es ging vor allem darum, die Kinder für Distance-Learning fit zu machen." 799 Schülerinnen und Schüler gibt es, momentan sind keine ganzen Klassen in Quarantäne. Das war allerdings schon ganz anders. 30 Corona-Fälle habe es bereits gegeben. "Ich gehe davon aus, dass es das ganze Schuljahr so weitergeht", sagt Direktor Kirschner. Anders als zu Beginn hat die Behörde ihre Strategie geändert: Derzeit müssen nur die direkten Sitznachbarn eines Verdachtsfalles in Quarantäne. Hier sieht der Schulleiter auch die Gefahr: "Wenn nur einzelne Schülerinnen und Schüler in Quarantäne sind, erreichen wir die viel schwerer."

Rundruf bei diversen Nachhilfeinstituten: Der große Run auf außerschulische Lernunterstützung ist noch nicht ausgebrochen, dazu komme es aber auch in "normalen" Jahren, wenn nicht Pandemie ist, in der Regel erst nach den ersten Schularbeiten, heißt es etwa bei einem der großen Anbieter, Nachhilfe Humer. Was sich aber bereits abzeichne: "Viele Eltern sind total verunsichert, ob jetzt der nächste Shutdown droht oder wie das Kind nicht den Anschluss verliert, wenn es in Quarantäne muss", berichtet Brigitte Nothegger von zahlreichen telefonischen Anfragen beim Unternehmen. Sie bestätigt, was auch Bildungspsychologin Spiel erhoben hat: "Viele Kinder konnten sich in dieser Zeit nicht gut organisieren." Auch Wissenslücken gebe es bei jenen Schülerinnen und Schülern, die regelmäßig zur Nachhilfe kommen – das liege quasi am Geschäftsmodell. Allerdings hätten sie die schulfreie Zeit auch nicht zum Üben nutzen können. "Und jetzt gehen viele Schulen irrsinnig rasch mit dem Stoff voran", berichtet Nothegger.

Für Anwesenheit sorgen

Umso wichtiger sei es, sagt Spiel, bei den anhaltend schwierigen Rahmenbedingungen für guten Unterricht vor allem eines im Fokus zu haben: "Wie schaffen wir es, diejenigen, die Probleme beim Lernen hatten und haben, auch beim Abgehen vom täglichen Präsenzunterricht zu unterstützen?" Was sich kurzfristig realisieren lasse: für Anwesenheit sorgen. Pädagoginnen und Pädagogen sollten diejenigen Kinder, die Probleme damit haben, eigenständig Leistung zu erbringen, immer wieder in Kleingruppen an die Schule holen. Spiel: "Die Entwöhnung vom Lernen wird sonst noch verstärkt." Dass langfristig vor allem bei der Pädagoginnenbildung – und zwar von der elementaren Bildung aufwärts – angesetzt werden müsse und auch lange bekannte wissenschaftliche Erkenntnisse endlich einmal in der Praxis ankommen müssten (Stichwort: Ausbau der Ganztagsschulen), will Spiel aber nicht unerwähnt lassen.

Auch Didaktiker Vohns fürchtet, dass in der aktuellen Situation "die Schere bei den Leistungen weiter als sonst aufgehen könnte". Besonders im Fokus sieht er die Übergangs- und die Maturaklassen. Bei Ersteren liege es an den weiterführenden Schulen – etwa HAK oder HTL –, auf die Situation gut zu reagieren. Und beim Maturajahrgang? Auch ohne Corona sei die Qualität des Unterrichts von Schule zu Schule sehr unterschiedlich – das könne sich verstärken.

Weniger Tatkraft

Bernhard Keppler sieht den "Schaden, der durch Corona und Online-Learning an der Bildung entstanden ist", de facto von der anderen Seite. Ohne soziales Umfeld, ohne Uni-Spirit sei es für die Studierenden "wesentlich schwieriger, dabei zu bleiben", bemerkt der Dekan der Fakultät für Chemie an der Uni Wien. Keppler sorgt daher aktuell für "so viel Präsenz wie möglich". Damit komme man bisher ganz gut durch, sagt er, aber er weiß von den Kolleginnen und Kollegen "aus den Buchwissenschaften", dass dort die Situation noch einmal deutlich verschärft sei.

Wissenschafter aus Österreich und Deutschland bestätigen seinen Eindruck. Insgesamt 1.800 Studierende haben sie für ihre Studie mit dem Titel "Motivation in times of Distance Learning" befragt. Die zentralen Ergebnisse bis dato: Vor allem die psychische Vitalität der Studierenden befindet sich auf Sinkflug. Der Anteil derjenigen mit weniger Energie und weniger Tatkraft als vor Corona ist mit 35 Prozent groß. Auch die intrinsische Lernmotivation der Studierenden leidet: In beiden untersuchten Ländern geht die Begeisterung und das Interesse am Fach deutlich zurück. Die Forscher erklären das mit dem Fehlen von Sozialkontakten (auch zwischen Lehrenden und Studierenden) sowie fehlendem Feedback.

Blick zurück zur Schulstudie: Bildungspsychologin Spiel verweist auch auf volkswirtschaftliche Langzeiteffekte, die es schon vor Corona gab, die sich jetzt aber noch deutlich verstärken könnten: Wenn Kinder in der Schule den Anschluss verlieren und vom Lernen gefrustet sind, habe das nämlich auch gesamtgesellschaftliche Folgen – "was passiert mit all jenen, die am ersten Arbeitsmarkt nicht mehr vermittelbar sind?", fragt die Wissenschafterin. (Peter Mayr, Karin Riss, 21.10.2020)