Mehr als eine Milliarde Euro bräuchte es, um heuer die dringendsten Bedürfnisse der Rohingya-Flüchtlinge zu befriedigen. Jener muslimischen Minderheit, die seit Jahrzehnten in Myanmar verfolgt wird und zu Hunderttausenden in die Nachbarländer geflohen ist – vor allem nach Bangladesch. Doch nicht einmal die Hälfte der benötigten Summe wurde bislang gesammelt. Deshalb laden die USA, Großbritannien, die EU und das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR am Donnerstag zu einer virtuellen Geberkonferenz. Doch bereits in der Aussendung stellen die Organisatoren klar, dass es eine nachhaltige Lösung der Krise nur geben kann, wenn es den Rohingya ermöglicht wird, "freiwillig, sicher, würdevoll und dauerhaft" nach Hause oder an einen Platz ihrer Wahl zurückkehren dürfen.

Angehörige der Rohingya liegen auf einem Berg aus gespendeter Kleidung, nachdem sie von indonesischen Fischern gerettet worden sind.
Foto: Photo by Rahmat Mirza / AFP / APA

Doch ihr "Zuhause" – Myanmar – will die Rohingya nicht. Denn die dort verbliebenen 600.000 wurden zum Teil in Lager gepfercht, wie ein jüngst veröffentlichter Bericht von Human Rights Watch zeigt. 130.000 Rohingya leben im Bundesstaat Rakhine in umzäunten Gebieten mit wenig bis keiner Bewegungsfreiheit. Damit sie die Lager verlassen dürfen, benötigen sie eine offizielle Erlaubnis, die ihnen aber de facto nie ausgestellt wird, wie Human Rights Watch berichtet.

Die Show der Regierung

Gestützt auf Interviews mit Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort, Sicherheitspersonal oder Flüchtlingen, die noch Kontakt zu Angehörigen in Myanmar haben, zeichnet Human Rights Watch ein bedrückendes Bild von der Situation der Rohingya in Myanmar.

Vor allem auch interne Berichte anderer Hilfsorganisationen oder der Vereinten Nationen wurden laut Studienautorin Shayna Bauchner herangezogen. Interne Berichte, die aus Angst vor einer Ausweisung durch lokale Behörden nie veröffentlicht wurden, wie Bauchner im Gespräch mit dem STANDARD sagt.

"Die Regierung Myanmars zieht auf den internationalen Bühnen eine Show ab", sagt Bauchner und verweist unter anderem auf das Versprechen, die Rohingya-Lager zu schließen. Doch stattdessen wurden die Menschen nur von Lager zu Lager gedrängt und schlussendlich in solche mit permanenten Behausungen gepfercht. In denen fehlt es ihnen an Zugang zum Arbeitsmarkt, Bildung oder Gesundheitsversorgung. Gesammelte Daten von Human Rights Watch legen nahe, dass die Menschen in den Lagern öfter unter Mangelernährung oder an durch Wasser übertragbare Krankheiten wie Durchfallerkrankungen leiden. Außerdem ist die Müttersterblichkeit im Vergleich zu anderen Gegenden in Rakhine höher.

Selbst wenn die Rohingya dann in Flüchtlingslagern wie in Cox’s Bazar landen – der weltweit größten Flüchtlingssiedlung mit 860.000 Menschen –, fällt es ihnen schwer, den Helfern zu trauen. Vor allem in medizinischen Fragen. So sehr sind sie es gewohnt, in Spitälern misshandelt und zur Zahlung von hohen Summen genötigt zu werden.

Die Menschen in direkter Nachbarschaft der Rohingya in Myanmar geben die Hassbotschaften der Regierung weiter, sagt Bauchner von Human Rights Watch. Die Abneigung sitzt tief, die Behörden stacheln immer wieder Ausschreitungen an, um die restriktive Wegsperrpolitik zu rechtfertigen. Doch selbst die Auseinandersetzungen zwischen bewaffneten Gruppierungen rechtfertigen eine Internierung von Zivilisten nicht.

Monate auf dem Meer

Weil sich die Lebensbedingungen in Myanmar zusehends verschlechtern, riskieren die Rohingya immer mehr: Viele von ihnen setzen sich in überfüllte Boote, um etwa nach Indonesien oder andere Staaten in der Region zu gelangen.

Erst Anfang September hatten Fischer der semiautonomen Region Aceh – entgegen den Anweisungen der Behörden – rund 300 Rohingya von einem Boot gerettet. Die meisten von ihnen waren laut Berichten Frauen und Kinder. Sie sollen bereits Monate auf hoher See gewesen sein. Laut Hilfsorganisationen werden die Flüchtlinge auch auf dem Meer immer wieder von Küstenwachen zurückgedrängt.

Mittlerweile leben mehr Rohingya außerhalb Myanmars als innerhalb des Landes. Die meisten Regierungen der Region wenden sich ab. Wie kann es in dieser Krise überhaupt noch eine Lösung geben? Die Staatengemeinschaft müsse die Situation der Rohingya wieder oben auf ihre Agenda heben, so Bauchner. Indessen versuchen Hilfsorganisationen wie Human Rights Watch, die unterdrückten Minderheiten in Myanmar zu vernetzen und kritischen Stimmen ein Sprachrohr zu geben. (Bianca Blei, 20.10.2020)