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Harriet soll 175 Jahre alt geworden sein. Ein Grönlandhai hätte sie damit als junges Gemüse betrachtet.
Foto: REUTERS/Australia Zoo

Die 2006 gestorbene Galápagos-Riesenschildkröte Harriet erlangte Weltruhm als das Tier, das Charles Darwin höchstselbst 1835 aufgesammelt und mit nach England gebracht haben soll. Später sei sie nach Australien verschifft worden, wo sie noch mehr als eineinhalb Jahrhunderte weiterlebte. Eine schöne Geschichte (Man stelle sich vor: Bis vor wenigen Jahren lebte noch "jemand", der dem Vater der Evolutionstheorie persönlich begegnet ist!) ... und höchstwahrscheinlich auch eine, die nicht stimmt.

Harriets epochenübergreifendes Leben verblasst aber ohnehin neben jenem Tier, das nun am Universitätsklinikum Freiburg untersucht worden ist. Es handelt sich um einen Grönlandhai, der laut den Wissenschaftern etwa 245 Jahre alt geworden ist. Er sei um 1774 herum zur Welt gekommen: dem Jahr, in dem Johann Wolfgang von Goethe "Die Leiden des jungen Werthers" schrieb, wie die Forscher betonen. In diesem Fall kann man eine Begegnung definitiv ausschließen – der Unterschied zwischen der Welt, in die das Tier hineingeboren wurde, und der, in der es gestorben ist, lässt einen aber trotzdem ehrfürchtig staunen.

Die Lebensweise von Grönlandhaien ist noch wenig erforscht. Das meiste, was man über sie weiß, stammt von Exemplaren, die Fischern ins Netz gegangen sind.
Foto: Hemming1952

Grönlandhaie (Somniosus microcephalus) können bis zu sechs Meter lang und eineinhalb Tonnen schwer werden. Sie leben im Nordatlantik, vorwiegend in arktischen Regionen. Und obwohl sie bis zu zwei Kilometer weit abtauchen, scheinen sie nicht ausschließlich die trägen Tiefseebewohner zu sein, für die man sie lange gehalten hat. In den Mägen gefangener Grönlandhaie wurden neben Fischen häufig auch Überreste von Robben gefunden, was für einen aktiven Jäger spricht. Auch wenn es einer ist, bei dem alles langsam abläuft, die Bewegungen ebenso wie der Stoffwechsel und das Wachstum.

Die verblüffendste Eigenschaft des Grönlandhais ist aber seine Lebenserwartung. Das Exemplar, das nun in Freiburg auf dem Untersuchungstisch gelandet ist, war mit seinen 245 Jahren noch im besten Alter. Grönlandhaie sollen bis zu 500 Jahre alt werden können, was sie noch vor Riesenschildkröten und den großen Bartenwalen zu den langlebigsten Wirbeltieren überhaupt macht. Geendet ist das Tier als ungewollter Beifang in einem Netz – sein Pech war aber "ein Glücksfall für die Neurowissenschaften", wie Projektleiter Marco Prinz, Ärztlicher Direktor des Instituts für Neuropathologie am Universitätsklinikum, sagt.

Unvermeidliche Alterserscheinungen?

Den Medizinern ging es – natürlich mit Blick auf den Menschen – darum, scheinbar unvermeidliche Folgeerscheinungen des Alterns zu untersuchen. "Für neurodegenerative Erkrankungen des Menschen wie Parkinson und Alzheimer galt bislang das Alter als das größte Krankheitsrisiko. Bei den über 90-Jährigen sind statistisch mehr als 40 Prozent an Alzheimer erkrankt. Deshalb ist eine detaillierte histopathologische Untersuchung eines extrem langlebigen Wirbeltiers von größtem Interesse", sagt Prinz.

Mit hochauflösenden Mikroskopiertechniken konnte das Team das Gehirn des Hais detailliert untersuchen und mit denen von Menschen mit Parkinson und Alzheimer vergleichen. Letztere weisen in der Regel deutliche Veränderungen auf: Neben einer Schrumpfung spezieller Hirnstrukturen zeigen sich unter dem Mikroskop Ablagerungen von fehlgefalteten, potenziell toxischen Proteinen, ein deutlicher Verlust an Nervenzellen, reaktive Gewebeveränderungen und altersbedingte Gefäßveränderungen, die zu Blutungen im Gehirn und Störungen der Bluthirnschranke führen.

Der Blick ins Gehirn des Hais offenbarte trotz hohen Alters keine Anzeichen pathologischer Veränderungen.
Foto: Daniel Erny

Beim Gröndlandhai indes ergab sich ein ganz anderes Bild: "Überaschenderweise fanden wir im Gehirn des Hais, der sich in seinem dritten Lebensjahrhundert befand, keine altersbedingten Veränderungen, wie wir sie vom Menschen kennen", sagt Daniel Erny, Erstautor der Studie, die in den "Acta Neuropathologica" erschienen ist.

Die Folgerung der Forscher: Das "bloße chronologische Alter" könne nicht mehr als Hauptrisiko für neurodegenerative Veränderungen gelten. Vielmehr müssten neben genetischen Faktoren auch Umwelteinflüsse und artspezifische Faktoren entscheidend sein. Welche davon den Ausschlag geben, wollen die Forscher in zukünftigen Studien untersuchen. (jdo, 21. 10. 2020)

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Dieses 2016 nahe Grönland fotografierte Weibchen ist erst zwei Meter lang. Wenn ihr nichts zustößt und wir die Meere nicht ruinieren, wird sie weiter in die Zukunft vorstoßen, als es sich jeder von uns erhoffen könnte.
Foto: Reuters/Julius Nielsen