Der Ökonom Christian Felber kritisiert in seinem Gastkommentar das Mercosur-Handelsabkommen und argumentiert gegen die Verteidigungsschrift zweier Professoren der Wirtschaftsuniversität Wien.

Das umstrittene Mercosur-Handelsabkommen würde laut Folgestudien der Universität Manchester (2007) und der London School of Economics (LSE, 2020) zu einem Anstieg der Methan- und Lachgasemissionen führen, zu weiterer Entwaldung sowie zu einem starken Rückgang von Biodiversität. Diesen Tatsachen widmen die WU-Ökonomen Harald Oberhofer und Harald Badinger (DER STANDARD, 29.9.) keinerlei Aufmerksamkeit, was Kurt Bayer vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche zu Recht kritisiert (DER STANDARD, 16.10.). Sie warnen vielmehr: "Die Ausdehnung der regionalen Produktion [in Österreich] wird die Auswahl schmälern und zulasten der Konsumentinnen und Konsumenten gehen, auch weil sie des Preisvorteils günstiger Importe verlustig gehen. Darunter leiden vor allem Haushalte mit geringem Einkommen."

Höhere Effizienz durch internationale Arbeitsteilung? Rindfleisch aus Brasilien? Das geplante Mercosur-Handelsabkommen bleibt weiterhin hochumstritten.
Foto: Christian Fischer

Die WU-Ökonomen stellen das Freihandelsabkommen als soziale Maßnahme dar. Doch wie sozial ist es, wenn in den Mercosur-Staaten bis zu 5,1 Prozent der Arbeitsplätze im Maschinenbausektor zerstört werden zugunsten von mehr Rindfleischproduktion, während in der EU Arbeitsplätze in der Landwirtschaft verlorengehen zugunsten der Autozulieferbranche? Mit dem wachsenden BIP-Kuchen – laut obiger Studien selbst im "optimistischen" Szenario ganze 0,1 Prozent – "könnte die Ungleichheit effektiv reduziert werden", verheißen Oberhofer und Badinger.

Effizienz wofür?

Doch der direkte Effekt von Freihandel ist der genau gegenteilige: Freihandel erzeugt Gewinner und Verlierer, worauf auch die Reichsbank-Preisträger des Vorjahres Abhijit Banerjee und Esther Duflo in ihrem aktuellen Buch hinweisen. Erst durch sekundäre Umverteilungsmaßnahmen – die bisher in keinem Handelsabkommen der Welt festgeschrieben sind – könnten theoretisch die Verlierer kompensiert werden. Doch gerade eine Stärkung des Wohlfahrtsstaates wird von den Advokaten des Freihandels mit Verweis auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes tendenziell abgelehnt.

Das "wissenschaftliche" Grundargument der Freihandelsbefürworter lautet höhere "Effizienz" durch internationale Arbeitsteilung. Auf der Website der WTO wird die Idee in ein Lehrbeispiel gegossen: "Nehmen wir an, Land A ist besser als Land B in der Herstellung von Autos und Land B besser als Land A beim Backen von Brot. Es liegt auf der Hand (Akademiker würden sagen: ,trivial‘), dass beide davon profitierten, wenn sich A auf Autos spezialisieren würde und B auf das Backen von Brot und sie ihre Erzeugnisse entsprechend handelten." Die Ausrottung der Bäckereien in einem Land als "trivial" zu bezeichnen ist ein starkes Stück. Analog würden die WU-Ökonomen offenbar den letzten Bauern opfern, um das Importschnitzel um noch ein paar Cent billiger zu kriegen.

Doch bezogen auf welches Ziel ist Rindfleisch aus Brasilien "effizienter"? Ist es ökologisch effizienter? Entwaldung, Treibhausgase, mehr Pestizide und mehr Transport sprechen dagegen. In Bezug auf die kulturelle Vielfalt? Mercosur steht für Monokulturen. In Bezug auf die Resilienz? Die Außenabhängigkeit würde steigen. In Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit? Siehe oben. In Bezug auf die Menschenrechte? "Beispiele für Bedrohung, Einschüchterung, Gewalt und Morde an Indigenen sind häufig in Brasilien, Argentinien und Paraguay", steht in der LSE-Studie. Die Effizienz, von der die Freihandelstheorie handelt, bezieht sich auf die Investition von Kapital. Ist die möglichst effiziente Investition von Kapital aber das – normative– Ziel des Wirtschaftens und damit der Wirtschaftspolitik?

Umfassendes Gemeinwohl

Ein alternativer Ansatz lautet: Ziel des Wirtschaftens ist, dass es den Menschen umfassend gutgeht, dass sie ihre Grundbedürfnisse decken können, mit regionalen Biolebensmitteln aus einer vielfältigen Kulturlandschaft, dass sie sinnstiftende und sichere Arbeitsplätze haben. Ist das umfassende Gemeinwohl das Ziel, dann würde "effizienter" bedeuten: ökologisch nachhaltiger, regional resilienter, verteilungsgerechter, sozial kohäsiver sowie glücklichere und gesündere Menschen – unabhängig davon, wie hoch die Kapitalrendite in einzelnen Branchen und wie groß das BIP insgesamt ist!

Die Freihandelstheorie ist das "Kronjuwel" einer Irrtumskette, an deren Beginn die ungeklärte Frage steht, was denn überhaupt das Ziel des Wirtschaftens sein soll. Wird am Beginn dieser Theoriekette die falsche Annahme getroffen – effiziente Verwertung von Kapital –, dann kommt am Ende die falsche Schlussfolgerung und Politikempfehlung heraus: Mehr Handel ist prinzipiell besser, auch wenn das zu Ungleichheit, Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen und Machtkonzentration führt.

Fair und klimafreundlich

Ist hingegen Gemeinwohl das Ziel, ist "Ethischer Welthandel" die logische Schlussfolgerung und Politikempfehlung: Handel ist dann kein Selbstzweck, sondern Mittel, um die Teilziele des Gemeinwohls zu erreichen: von Klimastabilität und Biodiversität bis zu Menschenrechten und sozialem Zusammenhalt. Handelsabkommen müssten dann vorab auf die Erfüllung dieser Ziele evaluiert werden und im Falle der Kontraevidenz nicht beschlossen oder aufgekündigt werden.

Als erster Schritt könnte eine Gemeinwohlbilanz für Unternehmen zur Eintrittskarte in den Weltmarkt werden. Die Fairsten, Verantwortlichsten und Klimafreundlichsten könnten frei handeln, wer weniger zu diesen Zielen beiträgt, muss mit höheren Marktzugangskosten rechnen, und wer diesen Zielen zuwiderhandelt, wird vom Weltmarkt freigestellt. Freihandel bedeutet heute Freiheit von jeder sozialen, ökologischen, demokratischen und menschenrechtlichen Verantwortung. So ein Ansatz ist für die ökonomische Bildung ebenso ungeeignet wie das Schulbeispiel der WTO. Ethisch sensibler Welthandel ist die Grundlage für das Wohlbefinden der Menschen in Nord und Süd. Er sollte deshalb auch an der WU Wien gelehrt werden – als eine Alternative von vielen. (Christian Felber, 22.10.2020)