Mit einer Mahnwache machten Betroffene und Neos-Chef Niko Swatek auf die prekäre Behandlungssituation von Patienten mit Muskelatropie aufmerksam.

Foto: Neos/ Diepold

Es ist eine Existenzfrage: Was ist ein Menschenleben wert? Wie viel ist die Gemeinschaft bereit zu zahlen, um ein Leben zu verlängern oder vor einer langjährigen Pflege zu verschonen? Diese grundlegende Frage beschäftigt aktuell auch ein Grazer Gericht.

Der 14 Jahre alte Georg hat mit seinen Eltern die Justiz eingeschaltet, weil sie erkämpfen wollen, dass der Bub ein bestimmtes Medikament erhält. Eines, das ihm hilft, seine schwere Krankheit zu lindern. Georg leidet an der seltenen Muskelschwundkrankheit SMA (Spinale Muskelatrophie). Spinale Muskelatrophie beeinträchtigt alle Muskeln des Körpers, ruft Lähmungen hervor, kann auf die Lunge übergreifen und zum Erstickungstod führen. In Österreich kommen pro Jahr etwa elf Kinder mit SMA zur Welt – davon leiden im Schnitt sechs Kinder an der schwersten Form dieser Erkrankung.

Aktuell gilt das Medikament "Spinraza" als effektiv. Eine Spritze kostet allerdings 77.000 Euro und müsste mehrmals verabreicht werden. Sieben davon konnte Georg bisher mit Spenden finanzieren, jetzt bräuchte er eine Auffrischung. Aber die Kassen zahlen nicht.

Vergleich mit Schönheitschirurgie

Der Großteil der Länder ist daher eingesprungen, um all den Leidensgenossinnen und -genossen von Georg zu helfen. Bis auf die Steiermark. Wie aus einer aktuellen parlamentarischen Anfrage der Neos an das Gesundheitsministerium hervorgeht, wurde hier im letzten Jahr nur einem von elf steirischen SMA-Patienten eine Spinraza-Therapie gewährt. Aber selbst dieser musste dafür in ein anderes Bundesland, weil in der Steiermark diese Behandlung nicht angeboten wird.

In anderen Bundesländern werden SMA-Kranke weitaus häufiger mit Spinraza behandelt, in Wien sind es 71, in Oberösterreich knapp 80, in Kärnten sogar 90 Prozent.

In der Steiermark argumentiert die dortige Krankenanstaltengesellschaft Kages sinngemäß: Wenn jeder seine "Wunschbehandlung" bekäme, führe dies ins Uferlose. Ein Ärztegremium habe befunden, dass dieses Medikament nur bei Babys und Kleinkindern wirke. Dass es darüber hinaus medizinisch Sinn mache, "darüber gibt es keinen wissenschaftlichen Nachweis", heißt es auf STANDARD-Nachfrage im Büro des Vorstandsvorsitzenden der steirischen Landes-Spitalsgesellschaft (Kages), Karlheinz Tscheliessnigg. Zudem habe man Angst vor einem Präzedenzfall. Würde man jetzt die Tür aufmachen, "dann muss man womöglich auch für einen schönheitschirurgischen Eingriff bezahlen, wenn dieser positive Auswirkungen auf den Allgemeinzustand von Patienten hat".

Auch der Jurist und Leiter des Zentraleinkaufs der Landesspitalsholding Kages, Edgar Starz, hatte die Haltung der Steirer bei einem Symposion des Pharmig-Academy-Dialogs in Wien unzweifelhaft formuliert: Es hätte "kein Patient in einer Krankenanstalt ein individuell einklagbares Recht auf 'State of the Art'-Therapien innovativster Art".

Dementsprechend auch der jetzige Einspruch der Kages beim Grazer Gericht gegen die Bezahlung der lebenswichtigen Therapie für den 14-jährigen Buben. Das Verfahren wurde zur Adaptierung eines Gutachtens vertagt.

Landesregierung hält sich raus

In der steirischen Landesregierung, im dortigen Gesundheitsressort der Landesrätin und ehemaligen ÖVP-Ministerin Juliane Bogner-Strauß, will man sich raushalten. Dass das Landesunternehmen Kages so restriktiv reagiere, liege in deren Verantwortung. Die Krankenanstaltenleitung entscheide, wer womit behandelt werde.

Im benachbarten Kärnten wird die Sache völlig anders bewertet. In Kärnten werden fast alle SMA-Patienten mit einer Spinraza-Therapie – ohne Altersgrenze – versorgt. "Die Landesrätin verlässt sich in der Beurteilung der Notwendigkeit einer Behandlung ganz auf die Experten. Und im aktuellen Fall der SMA-Patienten macht dieses Medikament sehr wohl Sinn. Unsere medizinischen Experten sagen ganz klar, dass das Medikament wirkt. Wir haben daher schon vor drei Jahren im Land einen Topf geschaffen, der jedes Jahr mit zwei Millionen Euro gefüllt wird, mit denen ausschließlich diese teure Spinraza-Behandlungen finanziert werden", sagt Claudia Grabner vom Büro der Kärntner Gesundheitslandesrätin Beate Prettner (SPÖ).

"Freudestrahlender Vater"

Dass das Medikament auch bei Erwachsenen und nicht, wie in der steirischen Spitalsholding angenommen, wenn, dann nur bei Babys und Kleinkinder wirke, habe die Landesrätin erst kürzlich von einer betroffenen Familie bestätigt bekommen: "Vor drei Wochen ist ein Vater freudestrahlend auf die Landesrätin zugekommen und hat gemeint, er sei so froh, dass seine Tochter nun das Medikament bekomme. Ihr Zustand habe sich deutlich verbessert, das Medikament habe angeschlagen." Seine Tochter ist Mitte 20.

Angesichts der "vielen positiven Erfahrungen" mit dem Medikament fordern die Länder, sagt Grabner, schon länger, dass der Bund einen eigenen Finanztopf für die Behandlung der SMA-Patienten einrichten solle.

Anschober: Lösung für Babys

Zumindest für einen kleinen Kreis der jüngsten SMA-Patienten hat Minister Rudolf Anschober (Grüne) jetzt einen Sonderfinanzierung angekündigt.

Für Babys und Kleinkinder übernimmt künftig die Bundesgesundheitsagentur die Kosten für ein weiteres, besonders teures Medikament gegen die Spinale Muskelatrophie. Das erst im Mai zugelassene Mittel kostet 1,8 Millionen Euro und muss nur einmal verabreicht werden. "Der Beschluss der Kostenübernahme wurde gemeinsam von Ländern, Sozialversicherung und Bund gefasst. Diese Kooperation ist ein Meilenstein in meinem Bemühen, die Versorgung mit innovativen, aber auch oftmals sehr kostenintensiven Medikamenten in Österreich langfristig sicherzustellen, und zwar zu bundesweit einheitlichen Voraussetzungen", sagt Gesundheitsminister Anschober. (Walter Müller, 23.10.2020)