Gelegentlich wird im Forum der Wunsch geäußert, Artikel auf die gleiche Weise wie Postings mit roten und grünen Stricherln bewerten zu können. Auf die Gefahr hin, dass jetzt einige aus diesem Artikel hier gleich wieder enttäuscht aussteigen: Eine solche Like-Funktion ist in absehbarer Zukunft nicht geplant.

Sie wäre aber auch nicht unbedingt wünschenswert, wenn es nach einem kürzlich durchgeführten Experiment US-amerikanischer Forscher geht. Jedenfalls dann nicht, wenn man einen Text mit der Absicht schreibt, dass er auch gelesen wird. Denn laut dem Team von der Ohio State University senkt die Möglichkeit, einen Artikel zu liken, die Zeitspanne, die darauf verwendet wird, ihn tatsächlich zu lesen. Die Studie ist im Fachjournal "Computers in Human Behavior" erschienen.

Das Experiment

Als Probanden verwendete das Team von Daniel Sude, Silvia Knobloch-Westerwick und George Pearson 235 College-Studenten. Keinen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt also, aber dafür Angehörige einer Gruppe, der das Lesen in Fleisch und Blut übergegangen sein sollte. Vorab hatten die Forscher bereits deren Einstellungen zu vor allem in den USA kontroversiellen Themen wie Waffenkontrolle, Schwangerschaftsabbrüchen, wohlfahrtsstaatlichen Leistungen und Affirmative Action, also positiver Diskriminierung, erhoben.

Diesen Probanden wurden verschiedene Versionen einer eigens gebastelten News-Website präsentiert, auf der Artikel zu den vier Themenkreisen standen. Zur Hälfte hatten die Artikel einen konservativen Spin, zur Hälfte einen liberalen. Zu sehen waren jeweils die Überschrift und die ersten Absätze – wer weiter lesen wollte, musste den Artikel anklicken.

Zudem wies bei zwei Versionen der Website ein Banner darauf hin, dass die Artikel positiv oder negativ bewertet werden konnten, während es bei den anderen beiden Versionen hieß, dass die Bewertungsfunktion "derzeit deaktiviert" sei. Unter diesen Voraussetzungen ließen die Forscher die Probanden nun nach Lust und Laune auf der Seite herumsurfen, verfolgten aber natürlich jede Aktivität genau mit.

Die Ergebnisse

Die erste – nicht ganz überraschende – Erkenntnis aus dem Versuch war, dass sich die Probanden mehr Zeit für Artikel nahmen, die ihre Meinung widerspiegelten. Die durchschnittliche Lesezeit lag hier bei eineinhalb Minuten, während sie bei Artikeln mit entgegengesetztem Standpunkt unter einer Minute blieb.

Die Messungen zeigten aber auch, dass beim Vorhandensein einer Like-Funktion die Lesezeit um sieben Prozent sank. Und in immerhin zwölf Prozent der Fälle wurden Artikel bewertet, die gar nicht erst angeklickt worden waren – Überschrift und Anfang hatten offenbar bereits ausgereicht. Sorgfältiges Lesen oder der Wunsch, etwas Neues zu lernen, hatten laut Knobloch-Westerwick keine Priorität.

Interpretation

Die Erklärung dafür ist laut Sude recht einfach: Etwas zu bewerten sei eine Form sich auszudrücken – also selbst etwas mitzuteilen. Und wer spricht, der kann nicht gleichzeitig zuhören. Die Probanden seien dann stärker auf ihre eigenen Gedanken als auf den Inhalt des gelesenen Textes fokussiert gewesen. "Anstatt die Beschäftigung mit dem Webseiten-Inhalt zu erhöhen, dürfte die Möglichkeit zur Interaktion in Wirklichkeit von ihm ablenken."

Eine zweite Befragungsrunde nach dem Experiment brachte ein weiteres Ergebnis, das auch nicht überraschen dürfte, bei näherer Betrachtung aber etwas ernüchternd ist: Auf "wundersame" Weise hatten beide Varianten dazu geführt, dass sich die Probanden in der Meinung, die sie schon vorher hatten, bestärkt fühlten.

In den Durchläufen ohne Like-Funktion rührte dies laut den Forscher daher, dass entsprechende Artikel einfach mehr gelesen wurden als solche mit konträrer Meinung. Aber auch die Variante mit Bewertungsmöglichkeit führte dazu, dass sich die jeweilige Meinung verfestigte – obwohl hier weniger Zeit aufs Lesen aufgewendet worden war. Selbst bei begrenztem oder gar keinem Input durch die Artikel wurde die Einstellung der Probanden durch die Möglichkeit des Likens extremer, sagt Knobloch-Westerwick. Diese hätten sich "in einer Echokammer mit einem Insassen" befunden.

Express yourself

Aber gibt es es eine bessere Art, mit Online-Nachrichten umzugehen? Ja, sagt Sude – auch wenn sein Vorschlag in Zeiten immer kürzer werdender Aufmerksamkeitsspannen, sofort anspringender Empörungsreflexe und des (manchmal gar nicht bemerkten) Abtauchens in Filterblasen fast schon altmodisch klingt: "Drücken Sie nicht einfach auf den Like-Button. Lesen Sie den Artikel und hinterlassen Sie durchdachte Kommentare, die mehr sind als nur eine positive oder negative Bewertung."

Aber das tun Sie im Forum in seiner bestehenden Form ohnehin bereits ... (jdo, 25.10.2020)